Mai 2005 - Ausgabe 67
Die Literatur
Kreuzberg - Leben in (der) Bewegung von J.C. Wartenberg |
Auf dem Nachhauseweg von einer Party kommt mir wunderschöner Blues in den Kopf. Ich klingele Uli aus dem Bett, und wir verabreden uns für den nächsten Morgen in unserem Übungskeller. Es ist der 1. Mai 1987, der Beginn der 750-Jahr-Feiern von Berlin. Ich spiele Uli den Bass-Lauf vor und der findet die passenden Kontrapunkte auf seinem Klavier. Es ist das geilste, grouvigste Stück, das uns je einfiel. (...) Wir gehen, noch in Rhythmus und Akkorden träumend, Richtung Lausitzer Platz. Dort ist das traditionelle 1. Mai-Straßenfest. Auf dem Weg dorthin erzählen uns Bekannte, dass die Bullen am Morgen das Volkszählungs-Boykott-Büro im Mehringhof durchsucht und schwer verwüstet haben. Es ist tolles Sommerwetter, friedliche Familienausflugsstimmung, an die zehntausend Menschen drängeln sich auf dem Fest. Als wir gerade angekommen sind und uns durch bunte Menschenmassen schieben, fliegen plötzlich mehrere Tränengasgranaten mitten auf den überfüllten Platz. Es bricht totale Panik aus. Kinderwagen werden überrannt, alles rast wild durcheinander, stolpernd, Gebrüll von Kindern, angstverzerrte Gesichter, Hilfeschreie, Tausende versuchen, vor den Tränengasschwaden zu fliehen. Es fliegen immer neue Granaten in die Menge, eine Hundertschaft wild knüppelnder Bullen stürmt auf den Platz und drischt mit langen Latten auf die Flüchtenden. Mütter, die sich vor ihre Kinder stellen, werden erbarmungslos zusammengeschlagen. So etwas Brutales habe ich selten gesehen. Mitten in einem friedlichen Straßenfest bricht ohne ersichtlichen Grund der Krieg aus, keiner weiß, warum. Ich reiße ein schreiendes Kind, das seine Eltern verloren hat, vom Boden und renne mit ihm Richtung Görlitzer Park. Polizeiwannen rasen über Stock und Stein den Fliehenden hinterher. Doch im Gegensatz zu den Überfällen der letzten Jahre wehren sich die Leute jetzt. Mütter, Lehrer, Freaks und Punks, Kids, Türken, viele nehmen zum ersten Mal in ihrem Leben Steine in die Hand und versuchen so, die Polizei auf Distanz zu halten. Immer mehr Menschen strömen zum Lausitzer Platz und den umliegenden Straßen. Es folgt eine explosionsartige Entladung in bisher unbekanntem Ausmaß. Die Provokateure, die Hundertschaften, werden zurückgedrängt. Die Polizei ist dieser geballten Militanz nicht gewachsen. Überall brennt es, werden Barrikaden errichtet, ein ganzes Viertel wird zur Kulisse für hin und her treibende Menschenmasse, die Straße zur Bühne und die Feuer zur Beleuchtung der Szenerie, auf den Kreuzungen um den Görlitzer Bahnhof sammeln sich die Einwohner und trommeln auf alles, was aus Blech ist, ein ohrenbetäubendes Konzert, aus den Fenstern dröhnen die Scherben. »Macht kaputt, was Euch kaputt macht«. Es ist ein grandioses Schauspiel, aber alles ist echt. Brennende Mannschaftswagen, von Mollis getroffene Wasserwerfer, umgestürzte Autos. Die Luft ist eingefärbt von nervösem Blaulicht und den beißenden Schwaden des Tränengases, dem Parfum des Aufstandes. Die Entschlossenheit schaukelt sich immer mehr hoch, wie ein ausbrechender Vulkan. Die Polizei verläßt flüchtend den Kiez. (...) Kreuzberg ist »bullenfrei«. Doch die Ausschreitungen sind nicht mehr beherrschbar. Jeder Supermarkt und auch viele kleine Läden werden geplündert, alles, wo Alkohol rauszuholen ist, wird leergeräumt, und das »Bolle«-Kaufhaus am Görlitzer Bahnhof brennt bis auf die Grundmauern nieder, kein Bauwagen steht mehr auf seinen Rädern, keine Mülltonne an ihrem Platz. Entnommen aus: J. C. Wartenberg, Kreuzberg Leben in (der) Bewegung, Verlag Jörg Lühmann, 424 S., 15¤, ISBN 3-934119-09-3, käuflich zu erwerben u.a. bei Radlust, Skalitzer Straße 95 |