Mai 2005 - Ausgabe 67
Kreuzberger Legenden
Kreuzberger Nächte von Dr. Seltsam |
Bevor Kreuzberg in den Siebziger Jahren rebellisch wurde, war es wegen seiner Kneipen und Künstler Anziehungspunkt. Da war Mutter Leydicke an der Grenze zu Schöneberg, eine legendäre Kopfschußbude, wo die gezuckerten Liköre verheerendste Nebenwirkungen hervorriefen. Im Yorckschlösschen war die Jazz-Szene beheimatet, unentbehrlich als Brutstätte existentialistischer Gedanken und als »Abschleppstation«. Die heutigen Saufstätten am Heinrichplatz gab es damals noch nicht, in der späteren Roten Harfe etwa wurde bis in die Siebziger Jahre hinein von altruistischen Studentengruppen »Knastarbeit« gemacht. In der Zossener Straße Ecke Baruther stand in einem Abbruchhaus mit unbehobenem Dachschaden noch aus dem Krieg der Leierkasten, 1960 aufgemacht von dem Künstler-Original Kurt Mühlenhaupt. »Kurtchen«, wie ihn die Freunde nannten, hatte sich mit seinen naiven Straßenbildern einen eigenen, unverkennbaren Stil zugelegt, er gab Berlin, und vor allem Kreuzberg, ein neues Gesicht. Wahrscheinlich gab es damals keinen Touristen, der sich nicht im Leierkasten mit den niedrigen Preisen und dem bescheidenen Obulus von zwei Mark für die Künstler wenigstens einmal eine Nacht um die Ohren gehauen hat. Der Leierkasten bestand im Grunde aus zwei Zimmern: In dem einen wurde gezecht, im anderen Musik gemacht, und jeden Abend stand der Name einer anderen Band auf dem Programm. Bei näherem Hinsehen aber war es stets derselbe Musiker »Sonneschein«, der mal andalusisch, mal rockig seine Gitarre unplugged quälte. Dieses Hinterzimmer war höchst originell mit alten Zeitungen tapeziert, so daß man immer Gesprächsstoff hatte. Übrigens gab es hier schon damals, dreißig Jahre vor dem Lesebühnenboom, Dichterlesungen und »Vernissagen«. Wie so vieles aus den wilden Sechzigern endete auch dieses Idyll im Jahre 1977. Mit Abriß. Viele andere wären noch zu nennen Meisengeige, Nulpe, Wohnzimmer, Pinox, Casaleon, Blocksberg & alles Kneipen, die heute zwar längst verschwunden sind, vor 1968 aber das »Gefühl von Freiheit und Abenteuer« in Kreuzberg prägten. Sie zogen massenweise die jungen Westdeutschen an, die nichts weiter taten, als sich augenblicklich »Künstler« zu nennen, ohne noch recht zu wissen, auf welchem Gebiet man fortan »arbeiten« wollte. Das wichtigste aber für all die Westdeutschen war: Hier gab es keine »Polizeistunde«. Nur hier und in einigen Hafenstädten konnte man nächtens so lange trinken wie man wollte. Ein nicht zu unterschätzendes Moment an Bürgerfreiheit, das über all die Jahrzehnte das nächtliche Berlin prägte! Auch wenn man für die berühmten Kreuzberger Nächte ein im Ablauf der Jahrzehnte sich änderndes »Leitgefühl« konstatieren kann: durchtanzte Disconächte in den Neunzigern, die Droge hieß Ecstasy; gespannte Erwartung eines Polizeiüberfalls im Morgengrauen in der Hausbesetzerzeit in den Achtzigern, die Droge hieß Haschisch; durchdiskutierte Nächte in WGs und Roten Zellen in den Siebzigern, die Droge hieß Marx. Der Alkohol aber fehlte nie. Die Stimmung durchzechter Nächte, in denen man im Morgengrauen nach Hause wankend seinen Nachbarn begegnete, die zur Arbeit aufbrechen, war charakteristisch für das freiheitliche Lebensgefühl in der Großstadt. Den Song »Kreuzberger Nächte sind lang« von den Gebrüdern Blattschuß allerdings hatte Beppo Pohlmann ursprünglich nicht als bierseligen Polonaiseklatscher geschrieben, sondern als traurigen Blues. Hätte man das damals begriffen, wäre aus Berlin ein kulturelles Mekka von der Bedeutung Harlems geworden. Dr. Seltsam |