Kreuzberger Chronik
März 2005 - Ausgabe 65

Kreuzberger Legenden

Kreuzberger Legenden (12):
Aufstieg und Niedergang KPD/RZ



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von Dr. Seltsam

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Nach dem Willen ihrer Gründer sollte die KPD/RZ am Ende der »Bewegung« noch mal alles mobilisieren, was in der Szene frech, künstlerisch-schöpferisch und staatsfeindlich war. Jedem Altlinken und Terrorsympathisanten war klar, wo er sein Kreuz zu machen hatte. Für die offiziellen Wahlunterlagen konnte man schlecht unter dem Kürzel verfolgter Organisationen antreten, und so kreierte Parteisekretär Cörtlen augenzwinkernd die »Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum«. Damit war die erste »Spaßpartei« geboren, deren Ideen von der Volksbühne Ost und Regisseur Schlingensief honorarfrei übernommen wurden. Das ist ein bekanntes Übel: Kreuzberger erfinden wegweisende Neuheiten wie Maschinentelegrafen, Computer, Mai-Unruhen, Punkmode, Kreuzberger Chronik, und miese Geschäftsleute klauen diese Ideen und machen daraus unlustige Kopien, die alle Leute nerven.

Bei der Berliner Wahl im Oktober 1995 scheiterte die KPD/RZ nur knapp an der 5-Prozent-Hürde. Der Grüne Abgeordnete Reimund Helms brachtepersönlich eine riesige Sonnenblume in der Parteizentrale Enzian vorbei und bedauerte ehrlich, daß die »weitere Verbuntung« der BVV erstmal gescheitert war. Das ABM-Blatt Scheinschlag in Mitte kotzte sich dagegen erleichtert aus: »18 komma 8 Prozent erreichte die KPD/RZ im Stimmbezirk 24 (am Heinrichplatz). Zum Glück für die BVV Kreuzberg ist das aber nicht das Bezirksergebnis, sonst hätte ein Stadtrat namens Dr. Seltsam sowie allerlei unsinniger Papierverbrauch in den Ausschüssen gedroht.« Amüsant, wie sich im Sprachduktus alternativer Bürokraten schon die kulturell-politische Kluft zwischen Kreuzberg und Mitte ankündigte.
Der Hauptwitz der KPD/RZ bestand darin, die etablierten Parteien zu verspotten. Es sollte alles so sein, wie es bei denen eben war. Nur deutlicher. Besonderen Spaß machte die radikale Übernahme der »Argumente« der FDP, die damals schon neoliberal agierte und folglich in Kreuzberg nicht mehr existent war. (Öffentliche Bestechung der Abgeordneten etc.) Die Partei bot dem Meistbietenden Koalitionen an, Stimmenkauf und Korruption, aber alles billiger als bei den Großen, und natürlich immer öffentlich. Posten wurden ausgekungelt und durch Verlosung verteilt. Jedes Mitglied war gleichzeitig Funktionär, nur Judith hatte die verantwortungsvolle Rolle der »Basis«. Folglich forderte sie lautstark auf jeder Parteiversammlung die Selbstauflösung, die jedesmal mittels alkoholischer Getränke erfolgte. Die Abgeordneten der KPD/RZ sollten im Drei-Wochen-Takt zurücktreten, so daß am Ende jedes Parteimitglied Abgeordneter a. D. wäre. Selbstverständlich sollte das Abstimmungsverhalten jeweils zum Verkauf angeboten oder ausgewürfelt werden.

Das Berliner Verfassungsgericht beseitigte die 5-%-Hürde, und bei der nächsten Wahl rutschte die KPD/RZ fast unbemerkt mit einem Abgeordneten rein. Aber der Spaß war vorbei. Parteifreund Turnschuh würfelte »falsch« und verhalf der CDU zum Bau der ekelhaften Tennisplätze am Tempodrom. Menschen ohne Humor strömten in die Partei und erhofften sich ernsthafte Karrierechancen. Zum Ende des Jahrtausends erklärte sich die Führungscrew den Namensgebern folgend zur »KPD/RZ im Untergrund«. Wer aber Bescheid weiß, wartet …

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