Kreuzberger Chronik
März 2005 - Ausgabe 65

Der Kommentar

Ein Krankheitsbericht


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von Thomas Heubner

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Fast fünfzehn Jahre betreibt der Doktor seine Praxis am Viktoriapark. Er hat sein Auskommen, doch ihn plagen Sorgen. Obwohl bei ihm der Rückgang nicht so dramatisch ist wie bei den Urologen oder HNO-Kollegen, verspürt der Allgemeinmediziner Unbehagen, weil im Quartal rund 150 Patienten weniger in seine Sprechstunde kommen als vor einem Jahr. Bevor die Obrigkeit in Kanzleramt und Reichstag die »Gesundheitsreform« durchpeitschte.
Die kranken Wegbleiber haben freilich keine Wunderheilung erlebt, sondern können schlicht und einfach die 10 Euro Praxisgebühr nicht bezahlen. Zu ihnen gehört auch Martina B., verheiratet, arbeitslose Bauzeichnerin und Empfängerin von ALG II. Ab Mai, wenn der Hartz-IV-Tsunami flächendeckend übers ganze Land geschwappt ist, werden die ihr bisher zugeteilten Almosen halbiert, sie wird dann noch 148 Euro monatlich in die gemeinsame Haushaltskasse einbringen. Ihr Mann allerdings gehört auch nicht zu den bundesdeutschen Großverdienern, und die Medikamente, mit der Martina B. ihre Lebererkrankung behandeln könnte, werden für das Ehepaar unerschwinglich.

Bedeutet Hartz IV für viele die Zwangsdeportation in die 2. Klasse der BRD? Arme sterben früher … Sollte sich dieser alte Spruch für Martina B. bewahrheiten? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, Tendenz steigend. Das steht jedenfalls zwischen den Zeilen des Berliner Gesundheitsberichts für 2003/04. Herausgegeben von Heidi Knaake-Werner, die uns schon vor einem Jahr mit einem »Sozialstrukturatlas« der Hauptstadt beglückte. (Vgl. #LA#/I/ART=74#Kreuzberger Chronik Nr. 59/2004#LE#).

Die neue Denkschrift verkündet wenig neues: Die Situation ist beschissen, aber nicht hoffnungslos. Beispielsweise lebten Männer aus Steglitz-Zehlendorf durchschnittlich drei Jahre und acht Monate länger als ihre Geschlechtsgenossen in Friedrichshain-Kreuzberg. Die Frauen aus Treptow-Köpenick wiederum würden drei Jahre und drei Monate älter als die aus Kreuzberg. Tragischer noch die Lungenkrebs-, Leber- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die in den sozial schwachen Bezirken deutlich häufiger registriert werden als sonstwo in der Hauptstadt. Im Klartext: In Kreuzberg kaufen mehr Leute abgepackten Schinken bei Aldi als Gemüse im Bio-Markt. Sie essen auch lieber am Kiosk auf dem Kotti Pommes mit Ketchup und Mayo statt im Interconti Timbale auf Lachs-Birne. Zum Ausgleich wird dafür mehr gequalmt und Alkohol getrunken, wenn man vom stillen heimlichen Suff im Adlon oder in den Ministerien in Berlins neuer Mitte absieht.

Fast 10 Prozent der Berliner Bevölkerung leben heute von Sozialhilfe, darunter jedes vierte Kind unter 7 Jahren. Aber auf der Gegenseite ist in den letzten Jahren die Zahl der Grundschüler, die von ihren begüterten Eltern auf Privatschulen geschickt werden, über 60 Prozent gestiegen. Entsprechend auch die ärztliche Betreuung: So kümmern sich in Lichtenberg statistisch 2,5 Zahnärzte um 10.000 Kinder bis 17 Jahre, in Steglitz-Zehlendorf sind es 1,6, in Friedrichshain-Kreuzberg noch 0,72 und in Neukölln gar 0,36.

Wenn Gesundheit mit Bildung und sozialem Einkommen zu tun hat, müßte einem also um die Zukunft eigentlich angst und bange werden. Braucht es aber nicht, seit wir den rot-roten Senat und den Gesundheitsbericht der Sozialsenatorin haben, inklusive guter, nachahmenswerter Beispiele und Lösungsvorschläge. Erstes liegt bereits vor und ist ein deutsch-türkisches Kiezkochbuch für übergewichtige türkische Kinder. Zweites heißt stärkere »sozialkompensatorische Ausrichtung« des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Knaake-Werner wörtlich: »Wir brauchen in Berlin keine Ausweitung der Kapazitäten, sondern Angebote und Hilfestellungen, die die Betroffenen wirklich erreichen.«

Fein, daß die Genossin wenigstens ihren Parteiauftrag ernst nimmt, Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu sein. Nur dumm für den Betroffenen, wenn man dabei eine Blinddarmreizung diagnostiziert, und indessen das Krebsgeschwür ungehemmt weiter wuchert.

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