Kreuzberger Chronik
Juni 2005 - Ausgabe 68

Kreuzberger
Ingrid Gödde

Karriere war für mich nie so wichtig; ich mußte mich wohlfühlen.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Sie zieht an der Zigarette, bläst den Rauch aus und sagt: »Der macht, was ich will, und nicht umgekehrt.« Sie sagt es genießerisch und lächelnd. Selbstbewußt. Man könnte es mit der Angst zu tun bekommen. Dabei ist sie nicht einmal sonderlich verärgert, wenn er mal nicht so funktioniert, wie sie es gern hätte. Damit rechnet sie. Aber »man hat schließlich nur ein Leben«, und deshalb kann es nicht sein, daß er den Ton angibt und bestimmt, wo es langgeht. Das macht sie.

Also hat sie ihn regelrecht auseinandergenommen, analysiert, jedes Teilchen, jeden Baustein untersucht und festgestellt: Der weiß im Grunde doch nur eines: »Ich bekomme Strom, oder ich bekomme keinen Strom. Mehr weiß so ein Computer einfach nicht. Und deshalb macht der, was ich will, und nicht umgekehrt. Bei der Waschmaschine ist das was anderes«, da verliert sie schon mal die Nerven, aber am Computer macht ihr so schnell keiner was vor, seit sie in den Achtzigern bei dem Berliner Frauenbund 1945 e. V. diesen Kurs belegte, um dann später Frauen im Osten mit den Computern aus dem Westen bekanntzumachen.

Die Frau, die sich heute als Tänzerin durchs Leben schlängelt, wäre von sich aus nie auf die Idee gekommen, sich diese prosaischen Rechner näher anzusehen. Aber sie stand eben »wieder mal ohne Job da«, als sie sich vom Freund und dem Kurzwarenhandel trennte. Der Freund steht heute noch mit seinem Wagen auf dem Markt am Maybachufer und verkauft Bordüren, Spitzen, Knöpfe, das Geschäft geht gut. Sie haben Türkisch gelernt dafür, und sie haben die Türkinnen gewinnen können mit ihrem Türkisch, die Hausfrauen mit ihren Wägelchen haben dagestanden und gekichert und den Stoff durch die Hände gleiten lassen und gekauft. »Die andern Deutschen dagegen waren ständig besorgt, daß man ihre Ware angrapschte. Deshalb verkaufen die auch nix.«

Mit dem Freund auf Jamaica, 1980
Foto: Privat
Auf dem Markt war Ingrid Gödde »nah am Volk«. Das mag sie. »Ich kann nicht schreiben, aber ich kann reden wie ein Buch.« Auch, als sie in dem Übersetzungsbüro mit Sitz in Riehmers Hofgarten arbeitete, fand sie immer die richtigen Leute, wenn es sein mußte sogar einen Übersetzer, der einen Werbetext in die Sprache der Eskimos übersetzen konnte. Sie war das »Officemanagement«, kannte die Leute von der Messe Berlin GmbH oder von Partner von Berlin, und die kannten sie. Wenn die am nächsten Tag einen Text in sieben Sprachen brauchten, dann riefen sie die Gödde an. »Die Gödde macht das schon!«

Aber als auch die kleine Agentur im Hofgarten dem allgemeinen Abwärtstrend in der Wirtschaft folgte, sich von einigen Mitarbeitern trennte, Ingrid Gödde »schon wieder ohne Arbeit« war und sich an die Herren wandte, die sie so gut kannte, hatte niemand einen Job für sie. »Ich hab ein halbes Jahr lang wirklich geglaubt, daß es so weitergeht wie immer. Ich habe doch jedes Mal gleich wieder einen Job bekommen. Aber irgendwann hab dann auch ich kapiert, daß ich auf dem klassischen Arbeitsmarkt in meinem Alter keine Chance mehr habe. Egal, wie gut ich bin.«

Also machte sie sich daran, Haus und Hof in der Katzbachstraße auf Vordermann zu bringen. »Ich kann nicht nix tun, ich hab gegraben bis zur Schulterzerrung«, Blumen gepflanzt, Stühle aufgestellt. »Dabei hab ich endlich die Leute im Haus kennengelernt.« Sogar in den Keller ist sie gestiegen, dieses »filmreife Verlies«, das sie noch nie mochte, und da lag auf der Treppe »so ne Schaufensterpuppe, und ich denk, was soll denn die Puppe hier, bis mir klar wird, das ist ne Leiche. Und im selben Moment wird mir auch klar, daß die schon ziemlich lange da auf den Kartons liegt. Ich bin hoch in die Wohnung gestürzt und hab nach Otfried geschrien.«  Immer, wenn was passiert, schreit sie nach Otfried. Otfried war einmal ihr Geliebter, das ist zwar schon bald dreißig Jahre wieder vorbei, aber er ist immer irgendwie da gewesen, und seit zwei Jahren wohnen sie sogar wieder zusammen.  Aber Otfried sagte nur: »Du spinnst!«

Der Tote war ein ehemaliger Mieter, achtundvierzig Jahre alt, »seit achtundvierzig Jahren im Haus, hier geboren!« Einer, »den sie ausgeräumt hatten.« Der die Miete nicht mehr zahlen konnte, bis der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand, und irgendwann sein ganzer Kram vor dem Haus lag. Eines Abends ist er zurückgekehrt und hat sich im Keller schlafen gelegt. Für immer. Ingrid und Otfried haben eine Vase mit Blumen vor den Keller gestellt und dazu geschrieben: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«.  Es blieben die einzigen Blumen. Der Mann hatte nicht mehr viele Freunde. Auch der blinde, alte Türke, der manchmal in der Katzbachstraße steht und Selbstgespräche führt, in denen einige deutsche Worte auftauchen, Worte wie »Sozialamt, Arbeitslosengeld, Heizung ...«, scheint nicht viele Freunde zu haben. Manchmal geht Ingrid Gödde Zigaretten für ihn holen.
Foto: Privat
Es geht bergab mit dem Haus, ständig ziehen Leute aus. Häuser haben sie schon immer interessiert. Zumindest die, in denen sie wohnte. In der Bergmann, «da bin ich vor Einsamkeit fast gestorben«, in der Hedemann, in der JoachimFriedrichStraße, in der Dieffenbachstraße, in der Mittenwalder ... Über das Haus in der Dieffenbachstraße 74 hat sie sogar geschrieben. Denn als der Professor die Soziologiestudentin aus Osnabrück fragte, was denn das Thema ihrer Diplomarbeit sein sollte, hatte sie keine Ahnung. »Na, was haben Sie denn gemacht?«  »Nix!«, sagte die Studentin. »Was nix?«, fragte der Prof. »Nix eben. In nem besetzten Haus gewohnt.«  »Dann schreiben Sie darüber«, sagte der Prof. Ein paar Monate später lieferte seine Studen tin eine Arbeit ab mit dem Titel: »Entwicklungstendenzen und Probleme alternativen Lebens am Beispiel von Wohngruppen in besetzten Häusern«.

Seit damals sind Jahrzehnte vergangen, doch noch immer arbeitet Ingrid an der Basis. Auf der Katzbachstraße, im Haus, oder bei ihren Besuchen als Tänzerin im Altersheim. Der steile Aufstieg auf der Karriereleiter blieb aus. »Karriere war für mich nie so wichtig, ich mußte mich wohlfühlen da, wo ich arbeitete. Sonst bin ich gegangen. Habe einen Schnitt gemacht. Es gab viele solcher Schnitte.«

Nicht alle haben das immer verstanden. Vor allem den letzten Schnitt nicht. Denn ein paar Monate, nachdem sie die Leiche im Keller gefunden und sich so ihre Gedanken über die Zukunft nach der Hälfte des Lebens gemacht hatte, meldete sich ein Übersetzerbüro in der Bleibtreustraße bei ihr und wählte unter den siebzig Bewerbern Ingrid Gödde. Es war kein schlechter Job, der Vertrag war fünf Seiten lang und sollte nach einer Testphase von drei Monaten in ein festes Arbeitsverhältnis bis zum 65. Lebensjahr münden. Alle gratulierten ihr.

In der Bleibtreustraße aber herrschte ein anderes Klima als in Riehmers Hofgarten. Frau GrillischPasternak konnte lieblich zwitschern und fürchterlich brüllen. Keiner der Angestellten schien vor ihren Ausbrüchen sicher; wenn etwas schief lief, geriet sie außer sich. Bei der Neuen allerdings riß sie sich zusammen und zollte der älteren und erfahrenen Frau den ihr gebührenden Respekt. Bis sie eines Tages dann doch explodierte und Ingrid Gödde anfuhr. Am nächsten Morgen betrat sie das Zimmer von Frau GrillischPasternak und sagte: »Sie können mich jederzeit kritisieren, aber nicht in diesem Ton und nicht vor den Lieferanten«. Die Juristin GrillischPasternak versicherte, es würde nie wieder vorkommen. Und tatsächlich: Es kam nie wieder vor. Denn schon wenige Tage später beschimpfte sie einen Praktikanten, der fünfzig Seiten eines falschen Dokumentes ausgedruckt hatte. »Ich hörte das Geschrei im hinteren Zimmer und dachte, sie hat sich verletzt. Aber dann kam sie wütend an mir vorbeigerannt.« Am nächsten Tag teilte Ingrid Gödde einer fassungslosen Frau GrillischPasternak ihren Entschluß mit, zu kündigen.

In der Katzbachstraße
Foto: Dieter Peters
Die reagierte prompt und schrieb: »Hiermit bestätige ich, daß Frau Ingrid Gödde am soundsovielten soundsovielten gekündigt hat. Und in dem Moment fällt mir ein, daß sie mir das Arbeitslosengeld kürzen, wenn da steht, daß ich gekündigt habe. Ich hab versucht zu reden, aber mit der Frau war nicht mehr zu reden.« Wieder zu Hause sah sie sich ihren Vertrag noch einmal genauer an und entdeckte, daß die Juristin in ihrem 5seitigen Arbeitsvertrag die Kündigungsklauseln vergessen hatte. Sie rief an und sagte: »Liebe Frau GrillischPasternak, ich hätte da noch eine Frage ...« Zwei Stunden später stand ein Expressbote in der Katzbachstraße und überbrachte ein Einschreiben mit dem Kündigungsschreiben der Firma.

Beinahe ebensoschnell meldete sich auch das Arbeitsamt wieder bei Ingrid Gödde. »Mein Herr Müller, Meier, Schulze schickte mir ein Paket, da drin waren sämtliche notwendigen Formulare zur Gründung einer neuen Existenz.« Sie rief gleich an und fragte, »was das denn jetzt soll«, und Herr »Müller, Meier, Schulze &« sagte, sie habe doch immer schon davon gesprochen, sich selbständig machen zu wollen, und sie solle das jetzt noch schnell machen, bevor Hartz IV käme und es ernst würde. Sie arbeitete noch ein halbes Jahr als Honorarkraft bei Seitenwechsel, einem engagierten Projekt, das der Internationale Bund finanzierte. Bis der Bund ausstieg. Dann rief sie den Mann vom Arbeitsamt noch einmal an. Sie bekäme als IchAGlerin im ersten Jahr ihrer Existenzgründung 600 Euro monatlich, im zweiten noch 360 und im dritten noch 140 Euro, rechnete ihr der Mann vor. »Ich hab mich zur Existenzgründung überreden lassen. Außerdem wurde gerade der Laden in der Katzbach 6 frei.« Aber auf die Variante IchAG hat sie verzichtet, sie hat die »Risikovariante« gewählt: Noch ein halbes Jahr Arbeitslosengeld, dann muß der Laden laufen. Und jetzt gibt es einen bunten Tupfer im Grau der langen Front der Katzbachstraße. Saïdi ist ein kleines, außergewöhnliches Geschäft, in dem es alles das gibt, was Ingrid Gödde schon immer haben wollte. Denn manchmal verwandelt sich Ingrid Gödde, diese Frau, die so fest auf ihren Beinen in diesem Leben steht, in eine Figur aus 1001er Nacht, dann ist sie Imadi, die orientalische Tänzerin. In ihrem kleinen Laden, der mit dem Teetischchen und den Sitzkissen ein bißchen so aussieht wie die kleinen Buden der Medina, verkauft sie jetzt Kostüme, sie hat Tücher, Schmuck und Schuhe, sie hat alles, was die Herzen orientalischer Tänzerinnen begehren.

Foto: Privat
Seit 12 Jahren nämlich tritt sie auf, seit einiger Zeit zusammen mit der Gruppe Nav al Medina. Es gibt viele Tänzerinnen in der Stadt, die meisten sind jünger. Aber manchmal möchte eine Frau für ihren fünfzigjährigen Göttergatten eben keine zwanzigjährige Tänzerin, sondern so eine wie Imadi. Und dann zieht sich Ingrid Gödde nicht hinter der Bühne, sondern in einem Schlafzimmer in Lichterfelde um. Imadi wäre nicht Ingrid Gödde, wenn sie das nicht täte. Sie tanzt sogar in unorientalischen Krankenhäusern, in Altersheimen und findet das »superok«. »Ich tanze auch für Wirtschaftsbosse, ich habe nichts gegen Geld«. Ingrid Gödde ist keine Sozialromantikerin und keine Sozialarbeiterin, sie mag auch keine pathetischen Worte. Aber irgendwie geht es immer auch um etwas mehr im Leben als ums Officemanagement, um Bordüren, Computer oder das Tanzen. Sie hat bei allem, was sie macht, einen Anspruch: Es muß Spaß machen. Und irgendwann einmal sagt sie sogar: »Ich möchte Lebensfreude vermitteln«. Das tut sie. Ganz egal, was sie gerade macht.

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