Juni 2005 - Ausgabe 68
Die Literatur
Berlin ist eine Frau von Waltraud Schwab |
Egal, ob Junge oder Mädchen, das Kind heißt »Berlin«. So entschied es der Vater. Er liebte die Stadt, in die er 1971 auf der Suche nach Arbeit gekommen war. Er, ein Türke arabischer Herkunft. Bald holte er seine Frau nach, und schon ein Jahr später ging der Wunsch in Erfüllung: Mitten in Berlin kam Berlin zur Welt. Im Krankenhaus am Urbanhafen in Kreuzberg. Weder das Standesamt noch die türkische Botschaft hatte Einwände gegen den Namen. »Gut, dass ich ein Mädchen bin«, meint Berlin. Der Name passe nicht zu einem Jungen. Recht hat sie: Berlin, das kann nur eine Frau sein! Die 31jährige Arzthelferin ist an den Ort ihrer Geburt zurückgekehrt. Sie arbeitet nun im »Urban«. Das Hochhaus ist ein Wahrzeichen Kreuzbergs, jenes Bezirks, in dem Berlin aufgewachsen ist und der ihr bis heute der liebste ist. In der Notaufnahme des Krankenhauses hat sie angefangen. Dort hat Berlin die Seele Berlins hautnah gespürt. Nirgendwo sonst treten die Abgründe der Stadt so offen zutage: Armut, Einsamkeit, Alter, Alkohol und die ganz alltägliche Brutalität der Großstadt. Berlin begegnet diesen dunkleren Seiten der Metropole mit Nachsicht, fast mit Zärtlichkeit. Berlin ist eine moderne Frau. Als Migrantenkind hat sie sich das erkämpfen müssen. Denn trotz der großen Liebe der Eltern zur weltoffenen Stadt wurde das Mädchen streng erzogen. Sie durfte das Haus nicht verlassen, nicht mal einkaufen oder ihre Freundin besuchen. Aber Berlin ist zäh, sie hat sich die Freiheiten erkämpft, die sie braucht. Der Vater musste nachgeben. Sowieso sitzt er an der Quelle fürs Verständnis. Als Inhaber einer Kneipe fliegt es ihm förmlich zu. In der Kantstraße ist sein Laden, Zum goldenen Löffel heißt er. Je älter Berlin wird, desto mehr liebt sie ihren Namen. Je älter Berlin wird, desto mehr liebt sie Berlin. Nicht arabisch, nicht türkisch, nicht deutsch fühlt sie sich. Sie ist Berlin. Das ist die beste Synthese fürs Multikulturelle. Sie, ihre Schwester und ihr Vater haben deutsche Pässe. Nicht so der Bruder und die Mutter. »Für mich macht ein deutscher Pass keinen Sinn«, meint die Mutter Berlins. »Ich heiße Berlin«, sagt Berlin. Im ersten Augenblick glauben die Leute ihr nicht. »Dabei hat der Name so einen schönen Klang«. Sie lassen sich den Pass zeigen. »Dann finden sie es lustig. Toll.« Wie schön, zu wissen, wonach man benannt ist. Es lebt sich gut als Berlin in Berlin, erzählt die junge Frau. Wenn sie nach dem Aufwachen das Radio anstellt und »Guten Morgen Berlin« hört, fühlt sie sich angesprochen, als meinten die Moderatoren sie ganz persönlich. »Das stimmt mich positiv«, sagt Berlin. Die Stadt war schon immer für die kleinen Freuden im Leben zuständig. »Berlin, du bist keine Türkin mehr!« Es ist die Filmemacherin Antonia Lerch, die ihr das sagt, als sie 1996 »Vor der Hochzeit« dreht. Ein anderes türkisches Mädchen bereitet sich darin auf die Ehe vor, und Berlin darf das Geschehen im Film kommentieren. Aus Sicht ihrer allevitischen Eltern soll die damals 23jährige ebenfalls bald heiraten. Doch Berlin will nicht heiraten. Berlin will fliegen, will Stewardess sein. Im Film sind ihre Wünsche, Träume und Ziele im Leben festgehalten. Auch wenn sie sich nicht alle erfüllt haben, es ist doch alles in Erfüllung gegangen, meint sie heute. Berlin liebt Berlin. Es ist die Stadt, nach der sie Heimweh hat, wenn sie weg ist. »Hier gibt es alles. Die Menschen sind offen, locker. Die Leute lassen sich leben. Jeder auf seine Art.« Die Lebensumstände der Leute seien egal, weil nicht jeder alles über jeden wissen müsse. Das kommt ihr entgegen. Denn auch Berlin K. mag es nicht, wenn Nachname, Familienstand, Kinder, besondere Merkmale abgefragt werden. Für sie zählen das Herz und die Sehnsucht. Deshalb wohl hat Berlin sich immer schon gewünscht, dass ihr Bild einmal groß auf einer Wand zu sehen ist und dass darunter steht: »Ich bin Berlin!« Entnommen aus Waltraud Schwab, Berlin ist eine Frau, Jaron Verlag 2005, 14,90 ? |