Juni 2005 - Ausgabe 68
Die Geschichte
Rund um den Südstern von Dr. Seltsam |
Die beiden großen Kirchen am Südstern entstanden in einer kriegerischen Zeit, kurz vor der Jahrhundertwende. Sie wurden nicht für Gott, sondern fürs Militär erbaut. Durch die großen Doppelportale marschierten in Zweierreihen die Soldatenkolonnen von den riesigen Kasernen am Tempelhofer Feld herein. Die Kirchen wurden vom Militär geplant und finanziert. Das war ungewöhnlich, selbst zur Kaiserzeit. Die Folgen sind deutlich sichtbar: Im Vorhof der JohannesBasilika findet sich, rechterhand etwas hinter Koniferen versteckt, ein ungewöhnlich expressives Kriegerdenkmal für die deutschen Luftschiffer, in seiner wilden Männerdarstellung an Hans Albers erinnernd, aber von ziemlich gemeiner Wirkung. Ein paar Schritte weiter die Lilienthalstraße hinauf schreitet man durch ein pompöses Torbauwerk und sieht linkerhand einen Soldatenfriedhof, wo einem schlecht wird vor lauter NaziKriegsorden und Titeln auf den flachen Grabsteinkissen. Foto: Dieter Peters
Ausgerechnet am 8. Mai 1897 wurde die Kirche ohne eigenen Namen im Beisein des Kaiserpaares eingeweiht, und damit Gottes Segen für das gute Funktionieren dieser Schulungsstätte für Mördermoral erfleht. Daß der Gott des »Du sollst nicht töten!«Gebotes sich solche Perversion gefallen ließ, beweist seine unendliche Geduld. Oder seine Nichtexistenz. Die kriegerischen Horden jedenfalls, die, im christlichen Geiste erzogen, zweimal Europa in ein Schlachthaus verwandelten, sind Argumente für einen kämpferischen Atheismus. Doch unter Gottes Hand übersteht die Kirche auf dem Südstern sogar den Krieg. 1944 erhält sie einige Treffer, aber der Turm bleibt weitgehend unbeschädigt. Die Berliner Stadtmission hält danach Gottesdienste für Obdachlose in der Kirche ab. 1982 wird das Gebäude für angeblich sieben Millionen DMark an das Christliche Zentrum Berlin verkauft, eine Gemeinde aus dem Umfeld der extrem antikommunistischen Erweckungsbewegung (also reborn christians, wie etwa George W. Bush). Bei der Renovierung der bunten Glasfenster in der Altarnische wurden allerhand Dinge der modernen Welt abgebildet, für die man dankbar ist, darunter ein Gebilde, das aussieht wie Kühltürme eines Atomkraftwerks. 1987 gestattete die Gemeinde der Schauspieltruppe um Brigitte Grothum, die Premiere ihres »Jedermann«Passionsspiels nach Hofmannsthal in der Kirche aufzuführen. Gottes Stimme wird dabei von Erich Ponto gegeben, ansonsten ist es eher eine Kostümposse. Bis zum heutigen Tage jedoch erlebte dieses Theater andernorts hunderte Aufführungen. Der Gemeinde hat es nicht geschadet, sonntags ist die Kirche noch immer gut gefüllt. Gelegentlich bringen schwarze Gospelsänger das ganze Gebäude zum Swingen. Doch nicht nur die Kirche am Platz lebt, auch die Gastronomie. An den Tischen im Roxy sitzt eine Garde alter Männer in der Sonne wie auf Korsika und bekakelt die Zeitläufe; im Primo gibt es nach Meinung führender Gourmets die beste Pasta. Ecke Lilienthalstraße war früher der Sternling, eine ungeheure Absturzkneipe, doch nach mehreren Pächterwechseln kommt in der Lokalität kein Flair auf. Die Geldgier des Hausbesitzers hat eine Kultstätte des Suffs liquidiert, Schande über ihn! Gegenüber der Kirche wurden bis zur Hausbesetzerzeit einmal Automobile der Marke Mercedes verkauft; eines Morgens waren alle Scheiben eingeschmissen, und in schöner Kinderschrift sprayte jemand »Das wars«. Das wars dann wirklich, und seitdem ist eine Plus-Filiale an der Ecke, ob das nun besser ist?! Obendrüber wohnt der Maler Reiner Fetting, ein »Neuer Wilder«, der heute auch schon wieder etwas älter ist. Und darauf kann Kreuzberg am meisten stolz sein: In diesem Haus im Obergeschoß lebten Arwid Harnack und seine amerikanische Frau, die mit der »Roten Kapelle« die größte Widerstandsorganisation gegen die Nazis aufzogen. Weihnachten 1942 wurden sie in Plötzensee geköpft. Auf der anderen Platzseite leuchtet der UBahnhof wie ein gekacheltes 60erJahreSchwimmbad vor der Gotikkulisse; wenn man es wenigstens ordentlich beklebte, aber jedes Plakat wird abgerissen, und nackt sieht es einfach scheußlich aus. Hier war früher einmal Berlins großer Drogenmarkt, bis die Dealer in die Hasenheide vertrieben wurden. Ob das nun besser ist?! Aber »das feinere Kreuzberg« am Südstern wollte es so. So also ist es hier um die Kirche herum, das Leben: dörflich und legendenreich. Lebenswert. Denn über SüdKreuzberg wacht ein Einhorn, und wer es findet, hat Glück. Nun ist ein Einhorn normalerweise unsichtbar. Deshalb behaupten ja auch die platt materialistisch eingestellten Berufstätigen, es gebe Einhörner in Wahrheit gar nicht. Da ist was dran. Der normale Bürger rennt gesenkten Kopfes durch die Straßen zur UBahn oder zum Einkaufen, stets im Streß. Man muß aber gemächlich flanieren. Und dabei zum Kirchturm hinaufschauen: Da wo der Turmhelm in den Baukörper übergeht, auf der rechten Seite, das Horn in Richtung Blücherstraße gerichtet, da ist es. Gewiß ärgern sich die frommen Leute der Südsterngemeinde, daß wir ihren Kirchturm für solch einen heidnischen Mummenschanz benutzen, aber das Einhorn und das Glück sind ja für alle da. |