Juli 2005 - Ausgabe 69
Herr D.
Herr D. und Herr Gysi von Hans W. Korfmann |
Merkwürdig, dachte Herr D., wie diese Politiker immer wieder hochkommen. Wenn etwas schiefgeht, tauchen sie kurz unter und plötzlich wieder auf. Schießen wie die Pilze ein Stückchen weiter rechts oder links wieder aus dem Boden. Lafontaine zum Beispiel ein Stückchen weiter links. Herr D. hatte seinen Ausstieg damals bedauert. Auch wenn er, wie viele aus der SPD jetzt behaupten, vielleicht ein Phrasendrescher war, ein Schaumschläger, ein Dampfplauderer. Immerhin hatte seine Partei diesen Schaumschläger zuvor noch zum Kanzlerkandidaten erkoren. Phrasen gehörten zum politischen Geschäft, Phrasen droschen sie alle. Lafontaine wenigstens die richtigen. Sein zukünftiger Parteigenosse Gysi kam ein bißchen weiter rechts vom Tauchgang wieder hoch. Auch dessen Abgang hatte Herr D. bedauert, und es ärgerte ihn, wie man Gysi die Gabe der Rede, die Kunst der Eloquenz, ständig als Laster vorhielt. Er vermutete blanken Neid als Motiv für die Anfeindungen. Herr D. erinnerte sich noch genau, wie er eines Tages zufällig neben diesem kleinen Gysi saß. Er, der kleine Herr D., neben dem kleinen Gregor Gysi. Herr D. wollte gar nicht mit nach vorne kommen, er wollte schön hinten sitzen bleiben und in Ruhe sein Bier trinken. Es war Horst gewesen, sein alter Schulfreund, ein halbwegs erfolgreicher Schriftsteller, der Herrn D. zu dieser Diskussionsrunde in irgendeinem Hinterhof in Prenzlauer Berg eingeladen hatte, und als Gysi um zehn immer noch nicht aufgetaucht war, zog er seinen Schulfreund am Arm auf die Bühne. Aber kaum saß Herr D. im Licht des kleinen und einsamen Scheinwerfers, da kam Gysi auch schon angerannt. Herr D. wollte sofort aufstehen und seinen Platz räumen, aber Gysi hielt ihn am Ärmel fest. »Bleiben Sie doch, bleiben Sie doch, jede Stimme zählt!« Herr D. blieb, doch er wurde neben diesem brillanten Redner immer kleiner. Herr D. verschwand beinahe gänzlich, er sprach den ganzen Abend über nur einen einzigen Satz, und der lautete: »Das glaube ich auch!« Dabei hatte Herr D. mehrmals etwas sagen wollen, hatte bereits Luft in die Lungen gepumpt für einen mindestens zehnzeiligen, gut formulierten Gedanken, doch jedes Mal kam ihm dieser Gysi zuvor und sagte genau das, was auch Herr D. hatte sagen wollen. Jedoch formulierte er es so perfekt, daß Herr D. sich vorkam wie ein Sextaner neben einem Primaner. Zudem hatte er am Ende das deutliche Gefühl, Gysi könne in seinen Gedanken lesen. Er wollte wieder aufstehen und gehen, da hielt Gysi ihn nochmals am Ärmel fest. »Bleiben Sie noch ein bißchen, Sie sind wirklich ein angenehmer Gesprächspartner.« Und Herr D. blieb brav sitzen. Das alles war lange her. Es war die Zeit, als Gysi gerade seine ersten Reden im Bundestag hielt. Als man noch versuchte, ihn mit dem Ellenbogen aus der deutschen Geschichte zu drängen. Gysi beschrieb akribisch und mit viel Humor, wie er einmal zufällig neben dem dicken Kanzler durch die Tür mußte. »Ein Gerangel wie in der Schule«, und wie in der Schule seien die Kleineren stets die Unterlegenen gewesen. Herr D. war amüsiert, Gysi war nicht nur ein guter Redner, sondern auch ein netter Plauderer. Da meldeten sich einige Altkommunisten zu Wort und stellten die Frage, weshalb Gysi sich da überhaupt einmische, es ginge doch schließlich um die Revolution. Jaja, sagte Gysi, das schon. Aber die Revolution sei schließlich kein Selbstzweck, sie sei lediglich ein Weg zum Ziel. Und vielleicht könne ja auch ein Weg der kleinen Schritte ans Ziel führen. Das war vor über zehn Jahren, dachte Herr D. Und jetzt, mit einer vereinten Linken, machte der kleine Gysi wieder so einen kleinen Schritt, dachte Herr D. Nach vorn. |