Kreuzberger Chronik
Februar 2005 - Ausgabe 64

Die Reportage

Kinderhaus in Kreuzberg


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von Michael Unfried

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Für die kleineren Kinder ist noch keine greifbare Lösung in Sicht. Gerade wurde die Anzahl staatlicher Kindergärten vom Bezirk reduziert. Ein Teil der Aussortierten wurde an sogenannte freie Träger übergeben und in Richtung Privatwirtschaft entlassen. So wie die Wasserwerke, die Berliner Verkehrsbetriebe, die Post … Doch nicht alle Kindertagesstätten haben die Reform überlebt, viele konnten die neuen Auflagen für Subventionen nicht mehr erfüllen. Wie sonst auch traf es wieder die Kleinen.

Auch in Kreuzberg scheint es das kaum umstrittene Ziel zu sein, große Einrichtungen zu schaffen, in denen jeweils etwa 200 Kinder untergebracht werden. Institutionen, die dem Bezirk zu klein und kostspielig erscheinen, sollen mit anderen zusammengelegt oder ganz aufgelöst werden. Die unterschiedlichen pädagogischen Ansätze, die in verschiedenen Kreuzberger Projekten praktiziert werden, sind bei der Auswahl der Fusionspartner unwesentlich. Die geographische Lage entscheidet.

Dabei trifft es die Falschen und manchmal solche, die seit Jahren eine fortschrittliche und erfolgreiche Strategie verfolgen. Das Kinderhaus am Kreuzberg ist ein zukunftsweisendes Modell, das den Bedürfnissen einer sich verändernden Gesellschaft Rechnung trägt und jenen Forderungen entgegenkommt, die Politik und Wirtschaft so lautstark propagieren: Es erlaubt den Eltern mehr Flexibilität. Bereits 1984 wurde die Kreuzberger Einrichtung in einer bundesweiten Untersuchung des Deutschen Jugendinstitutes als »richtungsweisend« gelobt, und auch im Jahr 2003 wurde sie gemeinsam mit 20 anderen Kindertagesstätten in ganz Deutschland als eine Institution gewürdigt, die »in hohem Maße die Vereinbarkeit von Beruf und Familie« unterstützt. Dennoch soll auch das Kinderhaus am Kreuzberg im März mit einer Tagesstätte in der Baerwaldstraße zusammengelegt und das vielgelobte Konzept aufgegeben werden.

Kinderhaus
Foto: Michael Hughes
Vor allem die flexiblen Betreuungszeiten sind es, die in der Baerwaldstraße nicht mehr gewährleistet werden könnten. Im Kinderhaus am Kreuzberg bestand für die berufstätigen Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder jederzeit zwischen 8 Uhr morgens und 20.30 Uhr am Abend in die Einrichtung zu bringen. Besonders für die vielen Freiberufler Kreuzbergs mit ihren unregelmäßigen Arbeitszeiten war das ein Angebot, das sie nirgends sonst fanden in der Stadt. Das Spektrum der Berufssparten im Elternkreis reicht von Architekten und Anwälten über Wissenschaftler, Kneipenbesitzer bis hin zum Eisverkäufer. Manche zogen wegen des Kinderhauses aus anderen Vierteln zum Kreuzberg. »Wenn ich erst um 14 Uhr arbeiten muß und den ganzen Vormittag frei habe, dann möchte ich diesen Vormittag mit meinem Kind verbringen«, sagt Irmgard Maenner, freiberufliche Journalistin. »Und wenn ich mal 10 Stunden brauche, dann geht das eben auch.« Eine andere Mutter sagt es drastisch: »Ohne das Kinderhaus muß ich entweder meinen Job oder mein Kind an den Nagel hängen!«

Im Rathaus Kreuzberg sieht man das gelassener. Schließlich stünde den Kindern auch in der Baerwaldstraße eine Betreuung bis abends um 20 Uhr zu. Doch mit einer längeren ÷ffnungszeit allein ist es nicht getan. Prof. Dr. Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut in München formulierte es in einem Brief vom November 2004 an den Senator Klaus Böger deutlich: »Die Kinderbetreuung in Großkitas zu zentralisieren und den existierenden Bedarf der Eltern abzudecken, indem einfach die ÷ffnungszeiten verlängert werden, ist kritisch zu bewerten.« Es sei äußerst fraglich, »ob gerade die Betreuung von Kleinkindern unter drei Jahren in Großkitas pädagogisch sinnvoll« sei.

Was Kleinkinder brauchen, ist ein Heim im eigentlichen Sinn des Wortes. Die Kindertagesstätte am Kreuzberg ist so ein heimeliger Ort. Selten sonst, wo Kinder leben, geht es so ruhig zu wie hier. Keine Tür ist versperrt, selbständig bilden die Kinder kleine Gruppen und spielen in diesem oder jenem Zimmer. Sie können verschiedenste Angebote wahrnehmen und machen das sogar – freiwillig! Es wird gemeinsam gegessen, gesungen, gelernt, und am Abend klingt der Tag mit einer Lesestunde aus – als lese der Opa der Großfamilie im Schaukelstuhl. Hätte die zuständige Stadträtin Klebba einen Blick in das Kinderhaus geworfen, wäre sie womöglich von der harmonischen und familiären Atmosphäre überrascht gewesen. Doch Frau Sigrid Klebba ist die erste Stadträtin in der fast vierzigjährigen Geschichte des Hauses in der Hagelberger Straße, die der Einrichtung keinen Besuch abstattete.

»Ich habe hier den Glauben an die Kommunalpolitik verloren«, sagt der Elternsprecher. Und Irmgard Maenner fügt hinzu: »All unsere Argumente haben nicht einen Millimeter bewegt!« Im Gegenteil: Nachdem eine der Erzieherinnen bei einer Bezirksverordnetenversammlung ihre Meinung kundtat, erhielt sie drei Tage später eine schriftliche Abmahnung. Und als das Haus mit Plakaten auf seine gefährdete Situation aufmerksam machte und um neue Kinder warb, erhielt Evelyn Kurzweg einen dreizeiligen Brief, in dem ein sofortiger Aufnahmestop für weitere Kinder verhängt wurde. »Gez. Amtsleiter Straub«. Eine persönliche Anrede an die Leiterin fehlte dem Schreiben vom 13. 8. 2004 ebenso wie ein freundlicher Gruß.

Kinderhaus
Foto: Michael Hughes
Der lange Weg der Evelyn Kurzweg begann schon Ende der siebziger Jahre, als das Haus noch Kinder aus sozial schwachem Umfeld beherbergte und in Familienintegrationsgruppen eine Rückführung zu den Familien anstrebte. Auch in den achtziger Jahren paßte sich das Heim der verändernden Gesellschaft an und sorgte sich vor allem um Kinder alleinerziehender Mütter, die im Schichtdienst arbeiteten. Auch an Samstagen standen die Türen des Hauses den Kindern offen. Sogar der Zigarettenhändler Reemtsma wurde auf die Einrichtung aufmerksam und bot seine Unterstützung an. Doch der Bezirk wehrte ab, das Einmischen der Wirtschaft in Bildungsfragen war Tabu. Heute rutschen die Politiker auf Knien vor Waffenhändlern, und Klaus Böger scheut sich nicht, die Firma IBM in seinem Schlußwort zum neuen Berliner Bildungsprogramm für Kindertagesstätten lobend zu erwähnen: »Darüber hinaus hat sich IBM durch die großzügige Ausstattung von 10 Prozent der Berliner Kindertagesstätten mit Multimedia-Lernstationen daran beteiligt, den Kindern den Weg in die Wissensgesellschaft zu ebnen.«Evelyn Kurzwegs Weg wird nicht geebnet. Ihr erfolgreiches Konzept soll Multimedia, die langjährige Erfahrung einem in Panik zurechtgezimmerten Konzept weichen. Das stille Kinderhaus wird, so die Planung, künftig den Schülern der Charlotte Salomon- und der Adolf Glasbrenner-Schule zur Verfügung stehen, wenn sie dann täglich, manchmal bis zum Abend, »nachsitzen« müssen. Ab siebzehn Uhr allerdings, so war zu hören, soll nur noch ein großer Aufenthaltsraum zur Verfügung stehen. Eine Art Wartehalle für jene, deren Eltern noch immer nicht Feierabend machen können. »Eine Zentralisierung der Kindertagesbetreuung in Großeinrichtungen«, resümiert Prof. Dr. Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut, wird »unter den gegebenen Umständen eine Verschlechterung der pädagogischen Qualität bedeuten«. Sein Brief an den Senator endet mit dem Wunsch, das Kinderhaus am Kreuzberg zu erhalten, das ein Modell für die Zukunft sei.

Die Eltern der sechzig Kinder aus der Hagelberger Straße haben nicht mehr viel Hoffnung. Trotz vielseitiger Unterstützung aus ganz Deutschland. Die Familienministerin Renate Schmidt zeigte sich in einem Brief an die Eltern des Kinderhauses betroffen, und der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer würdigte die Leiterin Evelyn Kurzweg mit den Worten: »Ihr Konzept überzeugt mich.« Allein die zuständige Stadträtin in Kreuzberg-Friedrichshain verteidigte bislang die vorgegebene Maxime: Kleine und auf spezielle Bedürfnisse zugeschnittene Kindertagesstätten sollen wegrationalisiert werden. Auf der Liste stehen unter anderem Berlins älteste Integrationskita in der Adalbertstraße, die sprachorientierte Kita Paliluga oder die schöne kleine Villa am Kreuzberg neben dem Tiergehege. Eine schmucke Immobilie, die der armen Stadt Geld einbringen könnte. Auch das könnte eine Rolle spielen bei der »Planierung« der noch immer blühenden Kindergartenlandschaft Kreuzbergs, die in ganz Deutschland als einmalig gilt.

Vielleicht sind ähnliche Überlegungen auch der Grund, weshalb lange niemand antwortete auf eine Alternative, die das Kinderhaus am Kreuzberg dem Bezirk vorschlug: Den Umzug in den Viktoria Hort an der Methfesselstraße 14, der im Sommer aufgelöst wird. Bis zum Jahr 2008 ist das im Park gelegene Gebäude mit dem großen Spielplatz »nutzungsgebunden«, ein Umbau zum Parkrestaurant mit Kegelbahn im Keller ausgeschlossen. Doch wer das Haus künftig nutzen soll, ist noch unklar.

Sicher ist nur, daß das Kinderhaus am Kreuzberg zum 1. März geschlossen wird. Die angebotene Alternative in der weit entfernten Baerwaldstraße wird von den Eltern niemand in Anspruch nehmen. Im jüngsten Schreiben an den Elternsprecher rät Stadträtin Klebba den Eltern, sich nach einem privaten Träger umzusehen. »Auch die konzeptionellen Eckpunkte, die sich in der Praxis der Kita Hagelberger Straße bewährt haben, können von freien Trägern aufgegriffen und gegebenenfalls übernommen werden.« Diesen stünde es zudem frei, sich »um Standorte zu bewerben, die der öffentliche Träger plant aufzugeben.« Konkrete Unterstützung sagte sie allerdings nicht zu. Im Gegenteil: »Inwiefern der Standpunkt Methfesselstraße 14. diskutabel sein könnte, wird das Jugendamt im Rahmen der Fortschreibung des Masterplanes ausführen.«

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