Dez. 2005/Jan. 2006 - Ausgabe 73
Strassen, Häuser, Höfe
Die Eisenbahnstraße von Waltraud Schwab |
Meine Eisenbahnstraße gehört Paul Pissarius. Dem alten Nachbarn aus dem Hinterhaus der Nummer 15. Viele Male hat er erzählt, wie er nachts, während der Verdunkelung, zusammen mit dem Jungen das kurze Stück von seinem Haus bis zur Köpenicker Straße gegangen sei. Den Toten hatten sie auf einer Karre. Er erzählt, wie sie die Straße überqueren mußten mit der Leiche, wie alles dunkel war. Angst hatten sie. Unendliche. In den Knien und in der Kehle saß sie. Jedes Geräusch war eine Gefahr. Ein Streichholz anzünden, Licht machen, konnten sie nicht. Auch nicht, als sie den Toten in die Spree warfen, oben bei der Brommy Brücke. Der Junge mußte helfen. Der Tote war sein Vater. Die Brücke gibt es heute nicht mehr. Jedem, den Pissarius kennt, erzählt er diese Geschichte: Ein Mann und ein Junge werfen in der verdunkelten Stadt einen Toten in den Fluß. Eindringlich versucht der alte Nachbar, das Unglaubliche nahezubringen. Immer in der Angst, man könnte abwinken, davonlaufen, seine Geschichte nicht hören wollen. Pissarius war schon über neunzig. Man traf ihn beim Briefkasten oder beim Kohlenholen. Das war Ende der Siebziger Jahre. Er wohnte im Erdgeschoß, eine kleine Wohnung. Klein war auch das Zimmer, in dem er und seine Frau zweieinhalb Jahre die drei Juden versteckt hatten: den Mann, die Frau, den Sohn. Ein winziger Raum. Zweieinhalb Jahre. Parterre. Fenster auf die Fabrik. DeTeWe, deutsche Telefon- und Kabelwerke. Zweieinhalb Jahre: Winter. Sommer. Winter. Sommer. Winter. In der Eisenbahnstraße. Der Straßenname paßt nicht zu all den Städten und Offizieren, die in der Umgebung mit Straßen geehrt wurden: Görlitz oder Muskau, Wrangel oder Falckenstein. Auf der anderen Seite der Spree ist der Ostbahnhof. Eine Kohlenlore fuhr einmal die Eisenbahnstraße entlang. Der Name ist geblieben. Mehr nicht. Und Pissarius, der erzählt, wie er den Weg zur Brücke ging. Zusammen mit dem Jungen und dessen totem Vater. Der Tote war früher sein Arbeitgeber gewesen, erzählt er. Ein Jude. »Meine Frau sagte immer: :Auf unser Haus fällt keine Bombe9, deshalb konnten wir sie verstecken«. Die Bomben sind auf die andere Seite der Eisenbahnstraße gefallen. Das ganze Karree war weg. Es wurde neu aufgebaut nach dem Krieg. »Eigentlich hatten die Bomben DeTeWe gegolten. Dort wurden Waffen gebaut.« Dies berichtet eine andere Nachbarin. Wie all die alten Leute im Hinterhaus erzählt sie irgendwas. Sie redet gegen Pissarius. Ihr Neid auf ihn ist in Wut umgeschlagen. »Frau Pissarius ging mit der Nase nach oben«, sagt sie. »Wegen der Juden war sie was Besseres.« Nach dem Krieg. Diese Nachbarin wäre gerne in den Film »Männer« von Doris Dörrie gegangen. Gegen das Geschlecht hatte sie eine Rechnung offen. »Mein erster Sohn war eine Vergewaltigung. Der zweite wußte, wie er reinkam.« All diese unverarbeiteten Erinnerungen. Gegenwart und Vergangenheit vermischten sich leicht. Oft standen sie vor dem Lokal von Ernie, wenn sie ihre Geschichte erzählte. Bei Ernie hatten sich Ende der sechziger Jahre die »Hasch- und Blues-Rebellen« getroffen. Ernie kannte Dieter Kunzelmann und Bommi Baumann und wie sie alle hießen. Mittlerweile ging die Kneipe schlecht. Die Mauer, die Spree. Hier war tote Ecke. Einmal verschanzt sich Ernie im Klo und schreit um Hilfe, weil ein Einbrecher im Lokal ist. Erst als die Polizei kommt, traut sie sich raus. Der Dieb war da bereits über alle Berge. Später hatte Ernie Alzheimer. Sie begann zu vergessen. Was dann mit ihr war, ist nicht bekannt. Auch Pissarius wurde älter. Einmal stand er am Briefkasten und sagte, daß er einen Brief hatte schreiben wollen, aber daß er nicht mehr gewußt habe, wie die Wörter gingen. Er merkte, daß er aufgehört hatte, sich an das Schreiben zu erinnern. In der Eisenbahnstraße gibt es nicht viel. Es ist eine häßliche Straße. Keine Bäume, nichts Grünes, nur die Markthalle zwischendrin. Die hat ihren Glanz längst verloren. Bleibt Wilhelm Leuschner, Widerstandskämpfer, hingerichtet 1944 in Plötzensee. Gegenüber der Markthalle hatte er seine Fabrik für Bierzapfhähne. Dort versteckten sich seine sozialdemokratischen Genossen. Leuschner wurde in der Straße ein Gedenkstein gesetzt. Was aber mit dem Mann geschah, der jahrelang jede Nacht mit überlauter Stimme aus dem Fenster hinausbrüllte, ist unbekannt. Markerschütternd war sein Geschrei. Unverständlich, bis auf ein oder zwei Worte. Alle wußten: Er hat Schreckliches erlebt im Krieg. Niemand sprach darüber. Wenn es schlimm wurde, kam er in die Klinik. Irgendwann holt ihn ein Polizist ab. Er schreit. Er wehrt sich. »Ich bin Widerstandskämpfer«, brüllt er. »Ja, deshalb holen wir dich«, lachen die Beamten. Eisenbahnstraße. Neunzehn Jahre wohnte ich da. Und gegenüber der Markthalle der erste Liebhaber. Irgendwann ist er abgereist. Eisenbahnstraße. Keine Gleise. Dafür Erinnerungen. Sonst nichts. Foto: Dieter Peters
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