Kreuzberger Chronik
Dez. 2005/Jan. 2006 - Ausgabe 73

Kreuzberger Legenden

Der Zwölfte Zwölfte Achtzig


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von Dr. Seltsam

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Der Zwölftezwölfte war in meinem Leben der Dosenöffner; innerhalb kürzester Zeit bekam ich sowohl eine klare Richtung, als auch einen Raketenantrieb verpaßt.« So beschreibt eine Aktivistin diesen ersten Kreuzber

ger Kampftag in dem Szenereader Autonome in Bewegung der AG Grauwacke (d. i. Pflasterstein-Material). »Ich lernte den Unterschied zwischen Reden und Tun, zwischen Zuschauen und Mitmachen. Die Explosion der politischen Bemühung zur machtvollen Bewegung, die mich gleichzeitig sozialisierte, war etwas, was vermutlich so nur einmal im Leben passiert.«

Es gab allerdings schon früh Anzeichen dafür, daß das Jahr 1980 in Berlin nicht so friedevoll enden würde, wie es sich der korrupte SPD-Senat (Garski-Affäre u. a.) erträumte. Bereits am 6. Mai hatte es in Bremen eine neuartige Randale gegen das Rekrutengelöbnis im Weserstadion gegeben. Der Ausgang der Schlacht wurde wegen der unerwarteten Militanz der schwarz vermummten Angreifer als linker Sieg gewertet. Dasselbe am 12. 11. in Bonn; und beim Protest gegen F. J. Strauß in Hamburg treibt die Polizei Olaf Ritzmann in den Tod unter der S-Bahn. In Frankfurt, Freiburg und sogar im braven Zürich gab es Unruhen, »Züri brännt«. Die Wut über die brutale Räumung des Anti-Atom-Dorfes in Gorleben am 4. 6. war unter den Vertriebenen noch immer nicht verpufft. Und nun war Berlin am Zug. Die ersten Wohnungen wurden besetzt, doch war die Herrschaft der Abrißbirne und der Baumafia noch ungebrochen.

Am Freitagmorgen, dem 12. 12. 80, sperrt Polizei das Haus Fraenkelufer 48 und jagt auf brutale Weise junge Menschen am Kanal entlang. Das ganze Wochenende über gibt es Straßenschlachten, Menschenjagd, splitternde Schaufenster, Plünderungen sowie die Besetzung ganzer Häuser. Hunderte Menschen werden verletzt. In der Weltpresse erscheint das Foto eines Polizeibeamten, der mitten auf dem Kudamm mit einem meterlangen Stock auf einen am Boden liegenden Demonstranten einschlägt. Und dann das Gespenst vom 2. Juni 1967: ein Kripobeamter hat einen Studenten erschossen. Bestraft wird niemand. Dafür aber 28 Leute festgenommen. Tausende demonstrieren, es bilden sich Patengemeinschaften von Prominenten, die die Besetzer schützen. Nach einem Vierteljahr sind 167 Häuser besetzt. Die Polizei hat mit ihrem aggressiven Verhalten innerhalb weniger Tage in Berlin bürgerkriegsähnliche Zustände und eine militante staatsfeindliche Bewegung geschaffen.

Deshalb gilt der zwölfte Dezember 1980 als die Geburtsstunde der militanten »Autonomen«, deren Straßenkämpfe über ein Jahrzehnt das Straßenbild beherrschten. Bis zur Auflösung der DDR, in deren Folge die unabhängige Linke merkwürdigerweise gleich mit unterging. Obwohl die mit »Staatssozialismus« nichts am Hut hatte. Der Begriff »Autonome« stammte von der italienischen linken Arbeiterbewegung autonomia operaria ab, die sich gegen die Kompromißlinie der Gewerkschaftsbosse organisierte und auch mit der Haltung der Parteikommunisten nichts zu tun haben wollte.

Auch die deutschen Autonomen fühlten sich von der offiziellen Politik wie von den organisierten KP-Sekten gleich weit entfernt und verraten. Das machte ihre Stärke aus. Bis zuletzt konnte der Staatsschutz die meisten Mitglieder der Autonomen nicht identifizieren. Das war aber auch ihre Schwäche: Außer mit dem von ihnen geförderten Antistalinismus haben die Autonomen keine nachhaltige Wirkung erreicht, keine Struktur, keine Organisation, keine Nachfolger, keine Erben. »Streetfighting man« war eine schöne Musik  und ein schöner Traum.


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