September 2004 - Ausgabe 60
Die Literatur
Frank Goosen - liegen lernen« von Frank Goosen |
Ich setzte mich in die U-Bahn. Ich konnte nicht mehr laufen. Mehrere Male stieg ich um, einfach so. Kurz vor Mitternacht stieg ich am Kottbusser Tor aus. Ich ging ein paar Meter die Adalbertstraße hoch, dann beschloß ich, den Rest meines Geldes zu vertrinken. Es hatte angefangen zu regnen. Vor dem Haus war ein Gerüst aufgebaut. Im Souterrain war eine Kneipe. Sie sah nicht besonders fein aus, aber das störte mich nicht. Hinter dem Tresen stand ein Kerl, der mindestens drei Meter groß war und mindestens genauso breit. Er trug eine Sonnenbrille, mitten in der Nacht, und von seinem Kinn fiel ein langer Bart auf seine Brust. Er hatte die Hände auf den Tresen gestützt und schien etwas zu betrachten, das sich auf der Innenseite seiner Brillengläser abspielte. Er trug ein schwarzes Hemd, von dem die Ärmel abgetrennt waren. Seine Oberarme waren behaart. Es gab nur drei Tische in der Kneipe, und zwei waren besetzt. An einem saßen fünf Männer, die ebenfalls Sonnenbrillen trugen. Auch sie waren sehr breit und kräftig und trugen T-Shirts, allerdings waren bei ihnen die Ärmel noch dran. Sie tranken Bier, stumm und ernst. An einem anderen Tisch saß eine junge Frau in einem ausgeleierten Batik-Pullover im Schneidersitz auf einem Stuhl und starrte in ein Glas Mineralwasser. Sie hatte fast keine Haare. Sie sah müde aus. Ich setzte mich an den freien Tisch und wartete darauf, daß der Wirt zu mir kam und die Bestellung aufnahm. Nichts geschah. Der Wirt bewegte sich nicht einmal. Ich sah mich um. An den Wänden hingen Bilder, auf denen Motorräder zu erkennen waren und lauter große, breite Männer mit Sonnenbrillen. Auf einem lachten sie sogar. Aus unsichtbaren Lautsprechern kam chinesische Musik. Plötzlich stand einer der fünf schweigsamen Trinker auf, griff sich die fünf mittlerweile leeren Gläser, ging zum Tresen und stellte sie dem Wirt hin, der sich gleich daran machte, fünf neue Bier zu zapfen. Dabei unterhielt er sich mit dem anderen. Mit fünf Bieren in seinen zwei großen Händen kehrte der Mann an den Tisch zurück. Stumm wurde angestoßen und getrunken. Ich stand auf und ging zum Tresen und bestellte ein Bier. Ich bekam eins und kehrte an meinen Tisch zurück und dachte daran, mit dem Mädchen im Schneidersitz ein Gespräch anzufangen. Aber sie wollte wohl nur in ihr Mineralwasser starren. Ich trank mein Bier aus, ging zum Tresen und holte mir noch eins. Das dauerte alles ungefähr eine halbe Stunde, in der niemand ein Wort sagte. Und im Hintergrund lief chinesische Musik. Ich machte mir ein paar Gedanken, aber die waren nicht der Rede wert. Dann sah ich, wie zwei Biker aufstanden und gemeinsam zum Klo gingen. Nach ein paar Minuten kamen sie wieder. Das Mädchen sah blaß aus. Ihre Augen waren dunkel und blickten böse. Ich trank langsamer. Draußen wurde es hell. Das letzte Bier trank ich sehr langsam. Dann stand ich auf und ging zum Tresen, um zu zahlen. Der Wirt sagte die Summe. Seine Stimme war ganz hell und hoch. Mein Geld reichte so gerade. Ich hatte noch eine Mark. Ich stieg die vier Stufen Richtung Bürgersteig hoch, und auf der dritten stolperte ich, konnte mich nicht mehr abfangen und schlug der Länge nach hin. Mit dem Gesicht landete ich in einer dreckigen Pfütze. Ich war müde. Ich blieb einen Moment liegen. Aus der Kneipe hörte ich noch immer chinesische Musik. Niemand machte Anstalten, mir zu helfen. Einfach liegenbleiben, dachte ich. Dann aber stand ich auf und wischte mir mit dem Ärmel durchs Gesicht. Auf der anderen Straßenseite hing ein Plakat, auf dem stand: »Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen.« Ich fingerte in der Hosentasche nach dem Markstück. Ich ging zur nächsten Telefonzelle und rief Tina an. (Frank Goosen, »liegen lernen«, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 3-453-21224-X, 8,95 EUR) <br> |