Kreuzberger Chronik
Oktober 2004 - Ausgabe 61

Das Thema des Monats

Visionen vom Tempelhofer Feld


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von Autoren der Kreuzberger Chronik
Fotos: Dieter Peters


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Schon lange machen sich Politiker Gedanken darüber, was auf dem großen Platz am Rande Kreuzbergs entstehen könnte, wenn einmal keine Flugzeuge mehr landen. Auch wir möchten einen Beitrag dazu leisten. Was soll werden aus unserem Flughafen? Das beinahe uneingeschränkte Wort unserer Autoren:

mit einer Rennstrecke? Ein permanentes Avus-Rennen? Die geplagten Ehefrauen könnten ihre Göttergatten auf die Rennstrecke schicken, die Kinder in einer Betreuungseinrichtung abgeben und in der Zwischenzeit shoppen, Kaffee trinken und Schuhe probieren. Die Betreuungseinrichtung für die Ehemänner, durch dicke Reifen abgepolstert und auch für Anfänger geeignet, könnte dann durch die Hangar-Lounge mit Flug- und Formel I-Rennsimulatoren ergänzt werden. Und die Damen entgingen dem sonntäglichen Renngeheule auf RTL, dessen Spannung sich bei einem Monopol- und Seriensieger ohnehin auf Null reduziert. Sie zögen sich derweil in den Wellness- und Fitnessbereich des Tempelhofer Feldes zurück, ließen sich massieren und schön machen und empfingen ihre ausgepowerten, aber rundum zufriedenen Möchtegern-Schumis wohlgelaunt und erholt. Na, wie könnte man das nennen? Richtig: ein Eherettungsprogramm.
Auch Omas und Opas könnten auf der Familienspielwiese artgerecht untergebracht werden, denn die Senioren würden zur ehrenamtlichen Kinderbetreuung abgestellt. Das Tempelhofer Feld wäre zudem ein Paradies für Ein-Euro-Jobber: Wer sonst sollte die umgefahrenen Gummireifenstapel wieder aufrichten? Damit diejenigen, die ý noch ý in Lohn und Brot stehen, ihren Feierabend sinnvoll nutzen.

Sylvia Platt


, wenn man das ausgediente Flugfeld wieder seiner alten Bestimmung zuführte? Schon Kaiser Wilhelm hat auf dem alten Tempelhofer Feld sein Heer aufmarschieren lassen. Hoch zu Roß, auch wenn man ihn hatte hinaufheben müssen, grüßte er einmal im Jahr seine Soldaten, und ganz Berlin freute sich an der Parade der feschen jungen Männer in den prächtigen Uniformen. Warum sollte das nicht auch unser Kanzler können? Egal, ob er Stoiber, Schröder oder Merkel heißt.
An den restlichen 364 Tagen wird exerziert. Für den Ernstfall geprobt. Herumballern. Nahkampftraining. Selbstmordattentate. Die Moschee stürmen. Sie liegt eh gleich neben dem Rollfeld. Man muß den Feind mit den gleichen Mitteln bekämpfen. Der Bundesgrenzschutz war ohnehin nie ganz fort von dort. Und am 1. Mai bräuchte sich die deutsche Einsatztruppe nicht mehr auf den engen Höfen der ehemaligen Kaserne und des jetzigen Polizeiquartiers auf die Füße treten. Schon beim Anblick dieser Übermacht der deutschen Verteidigungskräfte auf freiem Felde würden sich die Chaoten von der Oranienstraße in die Hosen pinkeln.

Michael Unfried


tempelhof
mit einem Arboretum? Schließlich kommt dem Ökosystem Wald im Zuge der Klimaveränderungen eine immer größere Bedeutung zu.
In einem Arboretum (lat. arbor = Baum) wachsen Laub- und Nadelbäume aus allen Erdteilen. Demnach würde ein Arboretum das öde Tempelhofer Feld in eine exotisch anmutende Waldlandschaft verwandeln. Zudem könnte es den Besuchern als Lehr- und Anschauungsobjekt für die Vielgestaltigkeit von Holzgewächsen dienen. Denn Ahorn, Buche oder Fichte kennt jedes Kind, aber Tulpenbaum, Nikkotanne oder Mammutbaum mitten in unserer Stadt wären etwas Außergewöhnliches.
Das herbstliche Farbenspiel auf dem Tempelhofer Feld wäre ein lehrreiches Spektakel, und wenn zum Abschluß des Sommers die Natur noch einmal ihr komplettes Farbregister zieht, dann könnte zum Beispiel der Ohio-Roßkastanie ý einer nordamerikanischen Verwandten unserer Kastanie ý mit ihrer früh einsetzenden Rotfärbung endlich jene Aufmerksamkeit zu Teil werden, die ihr gebührt. Denn die Roßkastanie ist im Grunde ein verkannter Exot. Sie kam ý nachdem die Eiszeit sie in südliche Gebiete verdrängt hatte ý erst 1576 nach Wien und eroberte von dort aus das nördlichere Europa. Es gäbe viele solcher »verloren gegangenen« und verdrängten Pflanzen, die man auf dem Tempelhofer Feld einbürgern könnte.
Die wichtigste Aufgabe des Arboretums aber wäre es, den wenigen natürlich in Europa verbreiteten Hölzern möglichst viele fremdländische hinzuzufügen, die unter dem Gesichtspunkt der Klimaverträglichkeit unsere heimische Gehölzflora bereichern und sozusagen eine politisch korrekte Multikultiflora am Rande Kreuzbergs schaffen würde.

Susanne Nagel


tempelhof
ein alternativer Streichelzoo? Man stelle sich vor, wie die Pionierleiterin in der Empfangshalle von Deutschlands größtem Streichelzoo erklärt: »Das Füttern ist verboten. Aber wenn sie euch zu nahe kommen, dürft ihr ihnen mit dem Stöckchen einen kleinen Klaps geben«. Der Andrang ist groß, seit nach Artikel 15 des Grundgesetzes die Konzerne und auch der einstige Flughafen Tempelhof in Gemeindeeigentum überführt wurden. Sofort marschieren die Kinder mit den roten Halstüchern diszipliniert auf die riesige Grünfläche des ehemaligen Rollfeldes. Kichernd und staunend stehen sie vor den weiträumigen Freilaufgehegen, wo die letzten überlebenden Exemplare einer längst vergangenen Epoche artgerecht gehalten werden: »Josef Ackermann, Deutsche Bank, Vergütung: 11 Mio. Euro« erklärt eine kleine Tafel, die gut sichtbar am Käfig angebracht ist. Doch der Bewohner hat sich in seine Strohhütte verkrochen und reibt sich nicht wie sein Nachbar das dicke Fell an den Gitterstäben.
»Klaus Esser, Mannesmann, 14,5 Mio. Euro« lesen die Kinder laut vor. Weiter geht es vorbei an Dutzenden solcher Reviere und Zwinger, deren Schilder Namen wie Ron Sommer, Jürgen Schrempp, Bernd Pischetsrieder, Klaus Landowsky oder Birgit Breuel tragen.
Vor einem Gehege aber verweilen die Kinder besonders lange: »Alt-Bundespräsident, 219.000 Euro jährliche Aktivbezüge« liest ein Mädchen mit zittriger Stimme und seufzt: »Dafür hätte mein Papa 700 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen.« Der Insasse macht vor den Kindern Männchen und bettelt nach etwas Eßbarem. Als einige der Jungpioniere Mitleid haben und ihn streicheln wollen, knurrt er jedoch grimmig und fletscht die Zähne. Erschrocken weichen die Kinder zurück, werden aber sofort von der Pionierleiterin Angela beruhigt: »Die tun nichts mehr, die wollen nur spielen!«

Thomas Heubner


auf dem Flugfeld Rosenkohl anpflanzen. Könnte sein, daß ganz Berlin davon satt wird, und er schmeckt doch wunderbar und ist auch noch gesund. Wenn die Start- und Landebahnen nicht gerade aus Ernte-Gründen stark befahren sind, könnte man darauf bei gutem Wetter doch wunderbar Teig ausrollen, für gigantisch lange Spaghetti, die sich mit einem altmodischen Propellermaschinen-Logo versehen in alle Welt verkaufen ließen. Mindestens einer der Hangare (Hangars?) müßte natürlich als Rosenkohllager dienen, aber in einem anderen könnte man doch eine Kirche errichten, aus dem einzigen Grund, daß diese bei Regen niemals naß wird, weshalb man die Fugen nicht sehr sorgfältig abdichten müßte und sich außerdem das Dach sparen könnte, damit der heilige Geist sich nicht immer durch den engen Kirchturm quetschen muß. Die Flughafenhalle könnte man fluten, denn ein stilvollerer, großzügiger Swimmingpool läßt sich kaum denken, und wenn das Wasser einmal abgelassen wird, sollte man Steptänzern den Zugang ermöglichen, denn nichts wäre für sie verführerischer als der glänzende Steinfußboden unter diesem hohen Dach. Die Akustik wird ihnen reihenweise Orgasmen verschaffen.

Gabriele Bärtels


tempelhof
. Etwas größeres dahin. Dieser Nazi Airport Tempelhof war einfach zu spießig und zu provinziell. Nicht groß genug gedacht, typisch Linzer Hinterwäldler! Der »Führer« konnte sich offenbar nicht vorstellen, daß es zukünftig größere Flieger als seine Tante Ju geben würde. Daß die Bauten so riesig sind, daß man sie angeblich noch aus dem Weltraum sehen kann, ist im Prinzip egal, wenn sie hier auf Erden so klobig, unelegant und steif herumstehen. Ein »Weltraumbahnhof Tempelhof«, das wäre die Alternative! Der Start der Europarakete mitten aus Berlin statt aus Kourou, das sich sowieso auf keiner Karte findet. Regelmäßig donnerstags um sechse. Ein Hit! Ein Kassenschlager! Die Tribünen auf dem Dach des Flughafens wurden einmal für 100.000 Besucher konzipiert. Sie blieben immer leer. Jetzt könnten sie endlich gefüllt werden. Und von der Spitze des Müllbergs Hasenheide aus darf das niedere Volk zusehen! Kostenlos! Besonders Klasse, wenn dann in 10 km Höhe die Rakete so wunderbar Europa-symbolisch platzt. Jedesmal ein gewaltiges Höhenfeuerwerk.
Oder ein Gebirge! Ein 500 Meter hohes Felsmassiv mit Kletterwänden, Gletschern, Schründen, Höhlen und wilden Tieren, sowie Flüssen und Wasserfällen und spannenden Trackingtouren wie am Taishan in China. Berlins »Heiliger Berg« ý das wäre in etwa das, was sich die Templer vor 800 Jahren vorstellten, als sie das Gut Tempelhof gründeten. Und zumindest so sinnvoll wie die aktuellen Visionen der Städteplaner des 21. Jahrhunderts.

Dr. Seltsam

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