Kreuzberger Chronik
Oktober 2004 - Ausgabe 61

Kreuzberger Legenden

Kreuzberger Legenden (8):
Der letzte Bomber



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von Dr. Seltsam

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Viele Piloten haben während der Luftbrückenflüge ihr Leben gelassen. Doch nur ein einziges amerikanisches Flugzeug stürzte über Kreuzberg ab. Der Pilot, oder besser: seine Leiche, wurde niemals gefunden.

Fünfzig Jahre danach begegnete ein Historiker im Grimm-Park einem verhutzelten Männchen, das ihn auf sein merkwürdiges Abzeichen ansprach: ein durchkreuztes Sternenbanner. Er stellte sich dem Historiker als Tibbits vor und sagte, er sei der letzte Rosinenbomber. Der Historiker, von Natur aus neugierig, ließ ihn bei sich duschen und besorgte ihm ein paar Army-Klamotten von Humana. Dafür erzählte Tibbits ihm folgende Geschichte:
Tibbits hatte ein Idol: Colonel Gail Halvorsen. Der als »Candy pilot« berühmt gewordene Flieger hatte die Herzen der Berliner Kinder im Flug erobert. Das war auch Tibbits’ sehnlichster Wunsch. Am 6. August 1948 stieg er in einen »Rosinenbomber«, um das Wort in die Tat umzusetzen. Kurz vor der Landung drückte er die Geschwindigkeit so weit wie irgend möglich, schob sein Seitenfenster zurück und warf einige Kilosäckchen Rosinen raus. Eines davon aber verfing sich, statt zu Boden zu fallen, im Propeller und ließ das Flugzeug ins Häusermeer stürzen. Schwer verletzt verbarg er sich in wechselnden Ruinen, denn er fürchtete eine harte Strafe. Eines Tages aber sagte er zu sich: Als Deserteur hätte ich höchstens drei Jahre bekommen, aber ich bin freiwillig ein halbes Jahrhundert im Kerker geblieben. Und kletterte zurück ans Tageslicht.

Doch Tibbits war ein gebrochener Mann. Bereits am 6. August des Jahres 1945 hatte der Pilot in Japan von sich Reden gemacht: der einzige Bombereinsatz dieses Tages wurde weltberühmt. Danach verbrachte er drei Jahre in einer psychiatrischen Klinik und tauschte mit dem Wiener Philosophen Günter Anders bewegende Briefe über Schuld und Depressionen aus. Tibbits war von der Idee besessen, alles wieder gutzumachen und meldete sich zum Einsatz nach Berlin. Er wollte sein Idol, Colonel Gail Halvorsen, an Güte und Freundlichkeit noch übertreffen. Doch auch der 6. August des Jahres 1948 wurde zum Unglückstag. Ein Rosinensäckchen brachte den Rosinenbomber zum Absturz. Ein anderes Rosinensäckchen hatte aus hundert Meter Höhe ein Kind erschlagen, und unter den Trümmern seiner abgestürzten Maschine war ein ganzes Wohnhaus in Brand geraten. Die Verletzten und Toten wurden nicht zu den Opfern der Luftbrücke gerechnet. Der Absturz galt als Unfall, der überall hätte passieren können. Über das Verschwinden des Piloten hatte sich die Presse einige Tage lang Gedanken gemacht: Hatte er ein Bombertrauma und war »völlig verrückt« geworden? Hatte er in seinem Wahn friedliche Rosinen und atomare Ladung gleichgesetzt? War er zu den Russen übergelaufen? Dann vergaß man Tibbits. Jetzt erst war er wieder aufgetaucht.

Der Historiker nickte. Er verstand, warum sich der Pilot so lange versteckt gehalten hatte: Zweimal war er gestartet, um Gutes zu tun. Zweimal hatte er schreckliche Katastrophen verursacht. Nur, wenn er sich aus allem heraushielt, konnte es ihm gelingen, kein weiteres Unheil anzurichten und ein wenig von seiner Schuld zu büßen. Als Tibbits ging, schloß der Historiker nachdenklich die Tür hinter ihm. In Bagdad erschoß am folgenden Tag eine GI-Patroullie fünfzehn harmlose Schiiten. Vielleicht, dachte sich der Historiker, hätte sich die ganze US-Armee an das Konzept ihres abhanden gekommen Rosinenbombers halten sollen …


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