Kreuzberger Chronik
November 2004 - Ausgabe 62

Kreuzberger Legenden

Kreuzberger Legenden (9):
Die Legende der Zuwanderer



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von Dr. Seltsam

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Mythen wie der vom Stadtteil Kreuzberg als »Insel der Seligen« und damit als besonders fortschrittlicher, antiautoritärer, staatsfeindlicher, »linker« Bezirk während des letzten Vierteljahrhunderts entstehen natürlich nur, wenn es auch eine entsprechende soziologische Grundlage dafür gibt, sprich: eine besondere Sorte Menschen. Nun haben parlamentarische Enquetekommissionen, Uniseminare und sogar amerikanische Geheim-dienste versucht, dieses Besondere zu erfassen, – weitgehend erfolglos.

Als Goethe 1810 die City-Berliner »einen verwegenen Menschenschlag« nannte, existierte Kreuzberg noch gar nicht, und bis zum Ende der Kaiserzeit gab es hier mehr Kasernen als Kirchen, die alten Friedhöfe nennen Rittergutsbesitzer und Offiziersdienstränge, – wo wurden eigentlich die armen Leute begraben?! Unter den Nazis gab es in Neukölln und Kreuzberg die stärksten Einheiten der radikalen Widerstandsgruppe Rote Kapelle, wie die Gestapo sie nannte. Ihr Hauptquartier befand sich am Südstern, und ein Großteil der 1942 Hingerichteten stammte aus Kreuzberger Arbeiterkreisen. Viele Hundert jedoch entkamen den Häschern und haben den 8. Mai 45 als echte Befreiung erlebt. In einem von Faschisten regierten Deutschland bekennender Antifaschist zu sein, hieß vor allem, jene, denen es unter Hitler gut ging, vom Wahnsinn des Naziregimes zu überzeugen. Was auch nach dem Krieg nicht immer ungefährlich war.

Viele Altkommunisten zogen in die spätere DDR, um beim Aufbau des Sozialismus zu helfen, statt im Kiez zu bleiben und weiter die Hefe der Bewegung zu spielen. Durch Blockade, Kalten Krieg, SPD (die in Westberlin immer so rechts war, daß sie als CSU der Gesamtpartei galt), Mauer und Bildzeitung wurde der »Ur-Kreuzberger« zu einem antikommunistischen und bierbäuchigen Monstrum, dem sogenannten »Schultheiss-Berliner«. Vor 1969 sah Deutschland auch in Kreuzberg anders aus. Selbst stadtbekannte Doktoren wurden beim Betreten einer Eckkneipe etwa in der hinteren Reichenberger Straße nicht bedient, weil sie eine »Beatles-Frisur« trugen. In der DDR-Provinz hielt sich dieser Nach-Adolf-Typus sogar noch etwas länger, in Berlin aber setzte eine segensreiche Massen-Zuwanderung ein.

Der Grund waren die Bundeswehr, billiger Wohnraum und die Berlinzulage. Dadurch gab es statistisch gesehen zu wenig junge Frauen in West-berlin, und wer böswillig ist, könnte daraus die Schwulenemanzipation herleiten. Mittlerweile sind diese Zeiten längst literarisch gestaltet, die Familie von Drogenopfer »Christiane F.« zum Beispiel zog zunächst ans Paul-Lincke-Ufer, wo die besorgte Mutter die kleine Christiane nie drau-ßen spielen ließ. Aus Hamburg kam Manfred Grashof auf der Flucht vor der Bundeswehr, die Berliner Polizei fing ihn ein und flog ihn illegal zurück. Er saß in Lübeck im Gefängnis. Und wir Gymnasiasten gründeten unsere erste linke Gruppe aus Solidarität mit Manfred Grashof. So sprang der Funke aus dem Zentrum der Studentenrebellion zurück in die Provinz. Er gehörte später zum Kreis der RAF und nahm einige mit sich in den Untergrund. Christoph Wartenberg vom Lauseplatz hat gerade das Buch »K 36« veröffentlicht, in dem er erzählt, wie er mit sechzehn aus Bremerhaven abhaute, um mit seiner Freundin in Berliner WGs befreit Liebe zu machen, von 400 Mark im Monat gut zu leben, und vor allem raus aus der engen Langeweile der alten Bundesrepublik zu kommen. Das waren die Träume, aus denen ein paar Jahre später der Mythos Kreuzberg explodierte.


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