Kreuzberger Chronik
November 2004 - Ausgabe 62

Herr D.

Herr D. und die Papierklauber


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von Hans W. Korfmann

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Der Rummel mit seinen lauten Karussells war weitergezogen, keine heulenden Sirenen, keine kreischenden Mädchen auf fliegenden Untertassen und keine Losverkäufer mehr, die dem Volk seit fünfzig Jahren Hauptgewinne versprachen. Obwohl das Volk sowieso keine Lose mehr kaufte, denn das Volk hatte begriffen, daß man ihm etwas vorgaukelte. Das Volk setzte jetzt auf Aktien. Und verlor schon wieder.

Herr D. beschloß, dem vom Rummel verlassenen Park einen Besuch abzustatten. Er spazierte zuerst zum Tiergehege, wo ihn früher der Kakadu begrüßt hatte. Doch der war eingespart worden, nebst Waschbären, Gänsen und einem Beo. Jetzt standen nur noch einige vollgefressene Ziegen im Gehege herum, während nebenan eine Handvoll Kaninchen an faulen Salatblättern herumknabberte.

Herr D. spazierte weiter zum Wasserfall, doch der Wasserfall hatte kein Wasser. Den ganzen Sommer hatte Herr D. darauf gewartet, daß die Attraktion des Bezirks wieder plätscherte, doch erst zur Eröffnung des Rummels wurde das kostbare Wasser wieder aufgedreht. Nun waren der Rummel und das Wasser wieder fort. Und dort, wo vierzehn Tage lang die Buden und Karussells der »Festlichen Tage« gestanden hatten, wuchs kein einziger Halm mehr, breitete sich pockennarbig die Wüste aus.



Herr D. wollte angesichts der voranschreitenden Trostlosigkeit schon wieder umkehren, da sah er eine kleine Gruppe von Arbeitern, die, ausgerüstet mit großen Zangen, Papierschnipsel aus der Rasenfläche klaubte. Herr D. erinnerte sich daran, wie er – lang war es her – ein Mädchen vom Beckenrand ins Wasser gestoßen hatte, woraufhin ihm der Bademeister eine ebensolche Zange in die Hand gedrückt hatte. Papierklauben war eine Strafarbeit im Eberstädter Freibad gewesen. Als zwei der lustlosen Papierklauber sich zu ihm auf die Bank setzten und versuchten, sich mit den Resten bröseligen Tabaks eine Zigarette zu drehen, erzählte ihnen Herr D. die Geschichte von damals. Doch die Gärtner drehten schweigend weiter an ihren Zigaretten. Dann aber sagte der eine: »Und wofür werden wir eigentlich bestraft?«

»Na, sie werden doch bezahlt, oder?«, meinte Herr D. »Bezahlt!«, höhnten sie wie aus einem Mund. »Vergessen Sie’s.«

»Sagen Sie doch mal?«, insistierte Herr D.

»Sie fragen wegen den Ein-Euro-Jobs, oder? Aber ich verstehe dieses ganze Geschrei um die Ein-Euro-Jobs sowieso nicht. Wissen Sie, früher gab es für Sozialhilfeempfänger drei Mark die Stunde zusätzlich für so ’ne Arbeit. 60 Stunden im Monat. Drei Mark oder ein Euro die Stunde, was macht das für ’nen Unterschied? Aber ich kann Ihnen was anderes sagen: Ich habe dreißig Jahre lang gearbeitet und dreißig Jahre lang in einer schönen, kleinen Wohnung gewohnt. Gleich da drüben. Dreißig Jahre. 60 Quadratmeter, zwei Zimmer. Jetzt bin ich ausgezogen. Weil das Sozialamt die Miete nicht mehr zahlt. Jetzt wohn ich in ’ner Platte, ein Zimmer, 35 Quadratmeter.«

»Das sagt doch alles, oder?«, meinte der Dünne und nickte so heftig mit dem Kopf, daß Herrn D. ganz schwindlig wurde.

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