Mai 2004 - Ausgabe 57
Kreuzberger
Zeynep Delibalta »Wenn man sein Leben in zwei Stunden erzählt, sieht es aus, als wäre es ein einziges Abenteuer.«
von Ina Winkler
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Ihre erste Erinnerung reicht weit zurück. Es könnte das Jahr 1950 gewesen sein. Glaubt man ihrem Paß, war sie damals ein vier Jahre altes Mädchen. Ihren eigenen Recherchen nach allerdings war sie erst 3. Der Weg aus dem Dorf Rize mit seinen Teeplantagen und dem vielen Schnee im Winter war einfach zu weit gewesen, mit dem Pferd oder dem Esel war die Stadt, in der man all die Formalitäten wie Geburtsurkunden, Heiratsanzeigen oder Grundbucheinträge erledigte, eine Tagesreise entfernt. Deshalb machten sich die Leute aus Rize nicht jedes Jahr auf den weiten Weg, und als man das Töchterchen Zeynep ins Register eintragen ließ, waren seit dem letzten Besuch in der Stadt schon wieder zwei, drei Jahre vergangen. So genau erinnerte man sich dann nicht mehr, welches Jahr, welcher Monat oder Tag es gewesen war, als das Kind zur Welt kam. In ihrer ersten Erinnerung sieht sich Zeynep auf den Armen einer fremden Frau. Das Kind schreit und schlägt um sich, um sie herum aufgeregte Männer und Frauen, vielleicht fünf oder zehn. Sie alle stehen in einem kleinen Boot und gestikulieren wild. Endlich wird das Kind weitergereicht, landet in den Armen einer anderen Frau und in Sicherheit. Später erzählt ihr die Mutter, daß sie im Sturm gewesen seien, das Schiff konnte nicht im Hafen ankern. Fischer kamen und nahmen die Passagiere in ihre kleinen Boote auf, um sie sicher an Land zu bringen. Es muß schwere See gewesen sein, die Wellen höher als die Häuser in den Bergen. Die Mutter verließ das Schiff zuerst, das Kind blieb in den Armen einer Fremden zurück. Foto: Privat
Der Wunsch, sich durch Kunst zu artikulieren, ist so alt wie die ersten Bilder, die sie malte, weil sie im Haus »immer still sein mußte«, aber doch so viel zu sagen hatte, viel erlebte, viele Geschichten hörte. Vom Vater, der früher mit seinem Dudelsack von Dorf zu Dorf und Fest zu Fest gezogen war, von all den Männern, die in Rußland verschollen waren, von ihrem Großvater, der eine letzte Nachricht für seine Familie auf eine Streichholzschachtel kritzelte, als man ihn gefangennahm. Ein Kurier brachte das Schächtelchen eines Tages in das Dorf in den Bergen: »Sie haben mich gefangen, ich weiß nicht, wohin sie mich bringen werden!« Immer wieder kamen die Russen in die Berge, das Leben in Rize war hart, an der Küste schien es freundlicher zu sein. Also zog die Familie nach Zonguldak, der großen Stadt am Schwarzen Meer. Der Vater fuhr zur See und pflanzte Mais, um seine siebenköpfige Familie ernähren und die Kinder auf die Schule schicken zu können. Zeynep Delibalta besuchte ein Mädchengymnasium und lernte »alles, was ein Mädchen in der Türkei eben lernen mußte«, auch Nähen und Schneidern. Beim Abschlußfest führte sie ihr Kleid selbst auf den Laufsteg, das Mädchen aus den Bergen war eine elegante, junge Frau geworden. Doch der junge Mann, in den sie sich verliebte, interessierte sich nicht für die hübsche Zeynep. Immer wieder lief der Lehrer der neuen Sekretärin in der Schule über den Weg, aber er würdigte sie keines Blickes. So kam sie 1970 nicht der D-Mark, sondern der Liebe wegen nach Berlin. Die Dreiundzwanzigjährige hatte Welten zwischen sich und den Kummer legen wollen. Und dann war da noch ein alter Traum: Zeynep wollte Kunst studieren! Während sie in der Nähe der Kochstraße elegante Kleider und orientalische Morgenmäntel für neue Kollektionen entwarf und dafür wie all die anderen Türkinnen in der Firma den Lohn einer billigen Näherin erhielt, schickte sie ihre Bewerbungsunterlagen an den Senator für Schulwesen. Als man ihr Diplom nicht anerkannte, wollte sie die Firma gleich wieder verlassen, doch Zeynep Delibalta hatte
Foto: Privat
An der Hunsrück-Schule aber fand sie nichts Gutes mehr. Nachdem Zeynep Delibalta zunächst als Näherin und dann einige Jahre am Mehringdamm in einem Steuerberatungsbüro für ausländische Arbeitnehmer gearbeitet hatte, fand sie in jenen Beruf zurück, den sie bereits in einer Schule in Zonguldak ausgeübt hatte: Sie wurde Sekretärin. Frau Delibalta saß gemeinsam mit einer deutschen Kollegin im Vorzimmer des deutschen Direktors der Hunsrück-Schule in Kreuzberg, einer Schule mit überwiegend türkischen Schülern. »Da habe ich den 2. Weltkrieg erlebt! Es war schlimm.« Deutschland 1978: Eines Tages kam ein jugoslawischer Vater, um seinen Sohn einzuschulen. Er sprach schlecht deutsch, hatte deshalb noch einen Cousin mitgebracht, und beide hatten sich für zwei Stunden freinehmen dürfen. Frau Delibaltas deutsche Kollegin aber hatte viel zu tun und sagte zu den Jugoslawen: »Kommen Sie morgen wieder!« – »Ich habe mir aber extra freigenommen, ich kann morgen nicht!« – »Kommen Sie morgen wieder!« – Die Jugoslawen und die Sekretärin gerieten in Streit, am Ende schlug der Vater die Tür hinter sich zu. »Scheiß Ausländer!«, sagte die Sekretärin. »Wie bitte?«, sagte die Kollegin aus Rize, und die Deutsche wiederholte: »Scheiß Ausländer!« Da wurde auch Frau Delibalta wütend und lief zum Direktor. Der sagte: »Aber Frau Delibalta! Sie haben ihre Kollegin gefragt, was sie gesagt hat, und sie hat Ihnen geantwortet. Was wollen Sie denn eigentlich?« Da verflog die Wut der Kollegin Delibalta und verwandelte sich in Trauer. Doch sie blieb nicht mehr lange, wechselte an eine andere Kreuzberger Schule, wo sie über zehn Jahre »arbeitete wie ein Tier. So sind wir von der Schwarzmeerküste eben.« Sie verdiente ganz gut, konnte dreimal im Jahr in das Land fahren, das eigentlich ihre Heimat war. 1986 stand sie zum ersten Mal wieder in Rize, saß auf den längst verfallenen Mauern ihres Vaterhauses zwischen den Teeplantagen. Eine deutsche
Foto: Dieter Peters
Am 4. Juni wird sie das neue Atelier in der Wilmsstraße 15 mit einer Vernissage eröffnen. Bis dahin muß alles untergebracht sein, im Keller, im Hinterzimmer, in den Stauräumen. Es ist nicht leicht, von sechs Zimmern auf zwei Zimmer umzuziehen. »Aber es ist schön hier, die Sonne den ganzen Tag. Man muß das Gute sehen«, sagt Frau Delibalta, und es hört sich ein bißchen an, als wolle sie sich Mut machen. Denn auch, wenn sie das Gute sehen kann, sprechen ihre Skulpturen oft eine traurige Sprache. Und dann ist da noch dieser denkwürdige Name ihrer kleinen Galerie, der alle, die Zeynep Delibaltas Geschichte kennen, ein bißchen traurig stimmt: Galerie »Wie bitte?« |