Mai 2004 - Ausgabe 57
Die Geschichte
Der Mythos von Bolle von Werner von Westhafen |
Der Kreuzberger 1. Mai, der Tag des Kleinkrieges, der es trotz aller und beidseitiger Friedensbemühungen jedes Jahr erneut bis in die Schlagzeilen schafft, hat nur wenig zu tun mit jenem 1. Mai, der einst die Proletarier aller Länder vereinigte und auf die Straße trieb. Die Tradition des Berliner Straßenkampfes zwischen Autoritäten und Minoritäten, Autofahrern und Autonomen, ist eine wesentlich jüngere. Sie existiert genaugenommen erst seit dem 1. Mai 1987. Dem Tag, als Bolle brannte. Jener Supermarkt an der Ecke der Wiener und der Skalitzer Straße, die noch heute unbebaut ist, auf der sich auch eineinhalb Jahrzehnte später noch niemand anzusiedeln wagt, und vor der, wie Rainer Kunzelmann, der 68er-Veteran, einmal bemerkte, heute die japanischen und amerikanischen Touristen stehenbleiben, um die noch immer rußgeschwärzte Backsteinwand zu fotografieren und sich zuzuraunen: »Hier hat doch ’87 Bolle gebrannt?« Der 1. Mai des Jahres 1987 schaffte es nicht nur in Tagesspiegel und Abendschau, er wurde bis über die Grenzen der Republik hinaus bekannt und machte den Mythos um das rebellierende Kreuzberg der Hausbesetzer und der Kellerrevolutionäre weltweit berühmt. Bild titelte am nächsten Morgen noch schlicht: »Bolle ausgebrannt!«, doch »36 Stunden nach den schrecklichen Krawallen« war es bereits »wie im Krieg. In den Straßen, wo die Schlacht tobte, riecht es immer noch nach Brand.« Die gesamte deutsche Presse kommentierte den Aufstand der Kreuzberger, die Tageszeitungen im Ausland, selbst der New Yorker, widmeten sich dem Berliner Supermarkt. »Doch mit der Zeit und mit der Entfernung«, wie der Historiker Stefan Krautschick in einem Aufsatz für »Geschichtslandschaft Berlin« schrieb, »wuchs offensichtlich auch die Bedeutung und die Größe« des Supermarktes: Der ehrenhafte New Yorker jedenfalls machte Bolle schon ein Jahr nach dem Brand zu »Berlins größtem Supermarkt«. In einer Studie mit dem Titel »Geschichte und Gegenwart der Autonomen« sprach der Autor von einem »Kiezaufstand, der die Dimensionen (…) der Hausbesetzerrandale vom 12. 12. 1980 weit in den Schatten stellte. (…) Danach herrschte dort, nach Auffassung der Herrschenden, ein rechtsfreier Raum. (…) Nachdem ein Supermarkt bereits bis auf die letzte Fischbüchse leergeräumt worden war, wurde er schließlich unter großer Begeisterung aller niedergebrannt.« Doch nicht nur in ideologisch verfärbten Geschichtschreibungen hat Bolle seinen Platz gefunden, in der schnell vergilbten Tagespresse und ausländischen Magazinen, sogar »Die Große Bertelsmann Lexikothek, unser Jahrhundert in Wort und Bild«, hat dem Kreuzberger 1. Mai 1987, wie Stefan Krautschick herausfand, einen gebührenden Platz eingeräumt. »Bolle hat auch schon mal besser ausgesehen!« Foto: Dieter Peters
Dabei war Bolle nicht der einzige Brand in Kreuzberg im Jahr 1987: auch Bilka am Kottbusser Damm blieb nicht vom Feuer verschont, sogar ein gerade baufertiger Kindergarten in der Adalbertstraße stand in Flammen. Doch das paßte nicht ins »Bild« von den zündelnden Autonomen, und die Notizen in der Presse zeugten von ausschließlich lokalem Interesse. Spätestens am 29. März 1990 aber, als die Polizei der kaum interessierten Öffentlichkeit einen Kreuzberger Pyromanen vorstellte, hätten auch diese Ereignisse mehr Aufmerksamkeit verdient. Doch man war nachhaltig damit beschäftigt, die Ursachen für den geschichtsträchtigen Kreuzberger Volksauflauf zu eruieren. Außer Frage stand inzwischen, daß die am Morgen des 1. Mai stattfindende Polizeirazzia im »Volkszählungsboykottbüro« des Mehringhofs vielleicht doch besser auf einen anderen Tag verlegt worden wäre. Außerdem war durch den Bolle-Brand inzwischen auch den hintersten Zehlendorfern klargeworden, daß Kreuzberg 36 dunkelstes Zonenrandgebiet war. Stefan Krautschick schreibt: »Achtzehn Jahre lang führte diese Filiale ein Sortiment, das eher den Eindruck eines Discounters hinterließ. (…) Es orientierte sich selbstverständlich an den wirtschaftlichen Möglichkeiten und den speziellen Bedürfnissen seiner Kunden. Lag der Laden doch seit Jahrzehnten inmitten der nach fast allen Sozialindikatoren statistisch am untersten Ende der sozialen Rangordnung Berlins gelegenen Gebiete.« – Der Filialleiter beschrieb die Situation Bild gegenüber etwas knapper: »Es ist nie so gewesen, daß wir unsere Kunden hier mit Handschlag begrüßt haben wie in Zehlendorf.« Am 1. Mai 1987 also wurde das bereits weitverbreitete Bild von Kreuzberg als sozialem Brennpunkt endgültig eingerahmt. Der Verdacht wurde erhärtet, das Klischee zum Abbild der Wirklichkeit erhoben, und der »Mythos Kreuzberg« von den Medien geschichtsreif geschrieben. Wohl deshalb interessierte es dann an diesem 29. März 1990 niemanden mehr, als die Polizei einen eher zufällig in Kreuzberg wohnenden Pyromanen vorführte, der nichts mit der Szene zu tun hatte, aber insgesamt 48 Brandstiftungen in Berlin zugegeben hatte – darunter auch den legendären Brand der Bolle-Filiale. Es interessierte die Politik nicht, der es gerade recht kam, daß die Linken und die Autonomen sich offensichtlich daranmachten, den halben Stadtteil anzuzünden. Es interessierte die Presse nicht, die eine Revolte im Armenviertel oder randalierende Langhaarige, je nach politischer Auffassung, besser verkaufen konnte als einen simplen Verrückten. Und es interessierte auch die Autonomen nicht, die mit dem Bolle-Brand plötzlich eine Heldentat begangen und soviel Aufmerksamkeit erreicht hatten, wie sie es sich in ihren kühnsten Träumen nicht erhofft hätten. Der Brand, der 1987 alle so nachhaltig beschäftigt hatte und zum Politikum geworden war, wurde in der Berichterstattung über den Prozeß und das Urteil gegen den »aidskranken Feuerteufel« (Bild) kaum mehr erwähnt. Obwohl eine Richtigstellung erste Pflicht jeder Zeitung gewesen wäre. Stattdessen begnügte man sich mit Sätzen wie diesem: »Lehrer ohrfeigte den Schüler – schon brannte die Scheune.« (BZ) Und so blieb sie also am Leben, die Legende vom politisch korrekten Brand »im größten Supermarkt Berlins«. Und so brennt bis heute am 1. Mai auf der Brache an der Wiener Straße Ecke Skalitzer Straße zuweilen ein kleines Gedenkfeuer. Platz ist ja genug. Denn tatsächlich hat sich niemand getraut, dort etwa ein Lebensmittelgeschäft hinzubauen, wie es schon damals der Filialleiter der abgebrannten Bolle-Filiale Bild prophezeite. Oder ein Multi-Kulturzentrum. Und vielleicht wäre es tatsächlich das beste, die Mauer hinter Glas zu legen – wie Rainer Kunzelmann einmal nahelegte – und als Touristenattraktion vor den launischen Wettern Berlins zu retten. Der schöne Spruch allerdings, der nach dem Brand auf der Mauer stand, ist heute nicht mehr zu lesen: »Bolle hat auch schon mal besser ausgesehen!« <br> |