Mai 2004 - Ausgabe 57
Die Geschäfte
Leise vergeht die Zeit von Hans W. Korfmann |
Schon als kleiner Junge stand Hartmut in der Werkstatt seines Vaters, sah ihm bei der Arbeit zu und übernahm die kleineren Reparaturen. Als Fünfzehnjähriger ging er dann bei Vater Otto Göring in die Lehre, 1974 machte er die Meisterprüfung. Seit 75 Jahren gibt es nun den Meisterbetrieb in der Graefestraße, und er hat seine Stammkunden, die kommen von überall aus der Stadt. Denn der Mann versteht etwas von seiner Arbeit. Deshalb hatte man ihn auch gerufen. Nach Neuruppin. Weil die Kirchturmuhr ausgerechnet am Wochenende immer um zehn Minuten nachging. Hartmut Göring untersuchte den Patienten gewissenhaft, aber er konnte keinen Fehler feststellen, das Uhrwerk der alten Pendeluhr tickte mit der Präzision einer Schweizer Uhr. Wochen später rief der Küster in der Werkstatt an. Der Fehler war gefunden. Es war ein kleiner Junge, der samstags auf dem großen Pendel der Turmuhr schaukelte. Pendel sind empfindlich, sie haben so ihre Eigenheiten. Es reicht, wenn eine Pendeluhr vom ersten in den vierten Stock umzieht, schon stimmt die Zeit nicht mehr. Die Erdanziehung ist zehn Meter weiter oben deutlich schwächer, das Pendel schwingt leichter und schneller, und schon geht die Uhr vor. Foto: Dieter Peters
Die Armbanduhren sind am empfindlichsten. Das viele Schütteln am Handgelenk bekommt ihnen nicht. Göring legt die Zeitwaage an eine alte, goldene Taschenuhr, ein Lautsprecher verstärkt das rhythmische Ticken: es klingt wie die Herztöne im Stethoskop. Dann druckt die Zeitwaage ein Diagramm aus. Göring ist zufrieden. Nach 36 Stunden Probelauf läuft seine Uhr exakt zehn Sekunden am Tag voraus. Genau diese zehn Sekunden Vorsprung braucht sie, wenn sie am gestikulierenden Arm oder in der wehenden Tasche ihres Besitzers immer wieder aus dem Rhythmus gebracht wird. »Zehn Sekunden, das ist optimal. Ein Durchschnittswert!« Uhren vertragen keine Unruhe. Obwohl in ihrem Innersten die »Unruh« wohnt. Die »Unruh« ist ihr eigentlicher Motor, treibt sie seit dem 15. Jahrhundert unaufhaltsam voran, ein zarter, auf einem Rubin gelagerter Ring, durch eine winzige Feder in leise Schwingung versetzt. Göring zieht einige der hölzernen Miniaturschubladen auf, wo in noch winzigeren Schächtelchen Zugfedern, Pendelfedern, Sperrfedern und Stoßfedern schon viele Jahre auf ihren Einsatz warten. Und eine kleine Lade mit Unruhen. Er greift die empfindlichen Ringe nur mit der Hornzange oder der Pinzette, ein Fingerabdruck auf der »Unruh« ist tabu. »Der Kunde möchte ja auch mal in seine Uhr hineingucken«, sagt Meister Göring, »und dann soll sie auch ein bißchen glitzern!« Dann klappt er die Brillenlupe herunter, die den ganzen Tag auf seinem rechten Brillenflügel sitzt und an die großen Lampen der alten Hals-Nasen-Ohren-Ärzte erinnert, und deutet auf die vielen Schräubchen am äußeren Rand des Unruhringes. Auf sie kommt es an. Sie bestimmen zwar nicht den Lauf der Zeit, aber immerhin den Lauf der Zeiger. Dreht man sie hinaus, verlangsamt sich die Geschwindigkeit. Und umgekehrt. Um zu verhindern, daß sich die Zeiger der Uhr verspäten, wenn sich im kalten Winter der Messingreif der »Unruh« von selbst zusammenzieht, hat man den geschlossenen Kreis unterbrochen und ihm einen stabilisierenden Metallreif untergelegt. Die Kompensationsunruh war erfunden und sorgte dafür, daß die Uhren sommers wie winters gleich schnell liefen. Das Ticken der Uhren hört er schon lange gar nicht mehr. Sowenig wie das Schlagen des eigenen Herzens. »Aber wenn das mal ausbleibt, dann wird mir wahrscheinlich ziemlich komisch zumute werden.« Sagt Uhrmacher Göring, in diesem ruhigen, vom ewigen Ticken der Zeit geprägten Duktus, und geht mit seinen kleinen Schritten in die Werkstatt zurück. Doch dann kommt er nochmal zurück, und plötzlich hört er sich etwas beunruhigt an: »Nur, wenn ’ne Uhr hinkt, wissen Sie, dann werde ich richtig nervös!« <br> |