Juni 2004 - Ausgabe 58
Kreuzberger
Werner Orlowsky »Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt.«
von Hans W. Korfmann
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Eigentlich würde eine Zigarre zu diesem Bart passen. Ein strenger, durchdringender, alles erobernder Geruch. So eine männlich herbe Attitüde, mit der sich Männer wie Castro oder Che Guevara schmücken, deren Konterfeis noch immer großformatig in seiner Wohnung hängen. Doch Werner Orlowskys Anwesenheit umgibt ein dezenter, feiner und beinahe schon süßlicher Geruch. Dieser Mann drängt sich nicht auf, er schleicht sich ein. Allerdings ist das Duftwässerchen Sylvestre nur eines von vielen aus einer Reihe von Relikten, die wie eine Garnison von Parfüms und Eau de Toilettes vor dem großen Spiegel stehen und von seiner Vergangenheit als Besitzer der Parfümerie in der Dresdener Straße erzählen. Einer Vergangenheit, die immerhin von 1960 bis 1980 reichte, und die den Spiegel, der dem unter lautstarkem Protest zum Baustadtrat gewählten »Besetzerhauptmann« einen mehrseitigen Beitrag widmete, zu der ironischen Überschrift verleitete: 20 Jahre parfümiertes Blackout. Die Vorstellung vom braven Parfümhändler Orlowsky war mit dem Bild, das die Medien von Orlowsky, dem kämpferischen Sprecher der Hausbesetzerszene, heraufbeschworen, nicht vereinbar. Tatsächlich war Orlowsky eine politische Spätgeburt. Der Student interessierte sich eher für Literatur und für Musik, auch wenn er Philosophie und Geschichte studierte und seine Dissertation über den Spanischen Bürgerkrieg schrieb: Orlowsky war vor 1960 »fast ein unpolitischer Mensch«. Das Leben in den Zeiten der Parfümerie war eben ein anderes. Die 68er gingen fast spurlos an Orlowsky vorüber, eingemischt hat sich der später als »verkappter Stadtteilsowjet« gehaßte Bürgerrechtler damals nicht. Er beobachtete die Studentenbewegung »wie ein Insekt!« – mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde und aus der Distanz eines bereits Vierzigjährigen. »Für die 68er war ich zu alt!« Und außerdem: Er hatte anderes zu tun. Er war Parfümist aus Passion, und »eigentlich ein Kleinkrämer«. Schon mit 23 Jahren hatte er geheiratet, ein Kind kam zur Welt und wollte ernährt werden. Orlowsky hatte nichts wirklich gelernt, und da kam ihm dieser Spruch in den Sinn: »Ist der Handel noch so klein, bringt er mehr als Arbeit ein!« – Tatsächlich hatte Orlowsky keine schlechten Erfahrungen mit dem Handel gemacht. Ohne die Ersparnisse aus den zehn Monaten seiner Schmugglerkarriere hätte er sich die DKW im Hochzeitsjahr kaum leisten können. Während andere in den ersten Jahren nach dem Krieg aufs Land fuhren, um einen halben Sack Kartoffeln gegen Schmuck und silbernes Besteck zu tauschen, fuhr Orlowsky mit seinem Freund nach Schwedt und Garz zu den Tabakbauern und schickte ganze Persilkartons voll Tabak postlagernd nach Berlin. Der Schmuggel wurde nie entdeckt, und die Zigaretten, die Orlowsky und sein Freund, der später den Ford Taunus konstruierte, in einer Fabrik in Moabit drehen ließen, verkauften sich gut auf dem Schwarzmarkt. Ohne diesen kleinen Erfolg wäre Orlowsky vielleicht auf eine andere Idee gekommen, als eine Drogerie und Parfümerie in der Dresdener Straße zu eröffnen. Doch die Idee war gut. »Die Gewinnspanne bei Lippenstiften«, schwärmt der Drogeriebesitzer noch heute, »lag bei 40%!« Hinzu kamen Rabatte pro verkauftem Dutzend. »Am Ende waren das über 50%.« Auch die Präservative waren kein
Foto: Privat
Doch die zwanzig Jahre des Krämerlebens waren nicht nur geprägt von Einkauf und Verkauf, Gewinnermittlung und Geschäftsstrategie, Wochenenden mit der Familie im Berliner Umland und an der Ostsee. Der belesene und redegewandte Parfüm- und Präservativverkäufer wurde allmählich beliebt. Man hatte Vertrauen zu ihm. Die Drogerie wurde allmählich zum Seelenkummerkasten im Viertel. Foto: Michael Hughes
Was dann folgt, ist eine Geschichte, die alle kennen, die der Spiegel, die Neue Züricher Zeitung, der Guardian und La Stampa beschrieben haben, und die sich wie ein Lauffeuer über inländische und ausländische Fernseh- und Rundfunksender verbreitet hat. Es ist die Geschichte des unaufhaltsamen Aufstiegs des Werner Orlowsky. Plötzlich ist er da. Der Parfümverkäufer. Aus dem Nichts. Genau wie dieses Sylvestre. Hat sich eingeschlichen, mischt sich ein. Im Frühjahr 1980 ist der Krämer mit dabei, als in dem besetzten Haus in der Mariannenstraße 48 der Slogan kreiert wird, der die folgenden Jahre Kreuzbergs prägen sollte und bis heute nicht aus Kreuzberg wegzudenken ist: Wo nicht instandgesetzt wird, wird künftig instandbesetzt! Als es in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1980 zur Randale kommt und die Hausbesetzer lautstark gegen den Kahlschlag protestieren, ist es Orlowsky, der als Sprecher der Betroffenenvertretung einige Tage später mit dem Innensenator und dem Bausenator vor den laufenden Kameras des SFB um das bürgerliche Recht streitet. Er sagt: »Die Besetzerbewegung ist die Antwort auf eine falsche Politik«. Noch in der Nacht nach der Ausstrahlung des Streitgesprächs erhält der Parfümhändler ein Telegramm der Journalistin Juliane Barthel: »Das war stark.« Foto: Privat
Was ihm zuerst vor allem Ärger einbringt. Als er nach gewonnener Wahl zu seinem weißen Audi 100 will, beschimpft
Natürlich, sagt er, war immer auch ein bißchen Glück dabei, von Anfang an. »Geboren am Ostersonntag im April 1928!« Knapp der russischen Gefangenschaft entkommen, als der Offizier den jungen Mann in Zivil fragte: »Hitler kaputt, was du?« Orlowsky ahnte nichts Gutes. »Ich auch kaputt!«, sagte der Siebzehnjährige und deutete auf die Wunde an seiner Schläfe. – Hätte er sich eine Sekunde später umgedreht, wäre die Granate ins Auge gegangen. – »Wohin?«, fragte der Russe. »Nach Hause!«, sagte Orlowsky. »Was Hause?«, fragte der Russe. »Mama!«, sagte Orlowsky, woraufhin man ihn aussortierte. Die meisten seiner Klassenkameraden, mit denen er gerade aus dem Ferienlager gekommen war, und die nun alle auf dem Bunker am Humboldthain Wache schieben mußten, verließen die Betonhöhle durch die andere Tür. Viele von ihnen kamen nicht mehr zurück aus Rußland. Nein, das notwendige Quentchen Glück hat ihm nicht gefehlt. Foto: Michael Hughes
»Keine hundert Tage im Amt« hatte die CDU prophezeit, doch Orlowsky blieb und trat nach vier Jahren sogar die zweite Amtszeit an, mit Stimmen der CDU!
Zu seinem 76. Geburtstag ehrte man ihn noch einmal ganz persönlich. Ein Mann der CDU sprach die Laudatio, als Geschenk überreichte man dem Freund der Besetzer einen Pflasterstein, eine Flasche mit Zündschnur und eine Maske. Man lachte und scherzte. »Die wollen mich endgültig begraben!«, dachte Orlowsky. Gründe dazu hätten sie gehabt, denn leicht macht es einem dieser Mann nie, der stets nach der Devise handelt: »Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt.« – Als man am Tag der Ehrung dem ehemaligen Stadtrat dann das Mikrofon übergab, blieb er dem alten Grundsatz treu und nutzte die Gunst der Stunde, die versammelten Verantwortlichen noch einmal für eine nachlässige Politik anzuklagen. »Die behutsame Stadterneuerung ist tot«, sagte Orlowsky, und keiner lachte mehr. Einige sollen böse Gesichter gemacht haben. Aber ausdrücklich verboten war so eine Rede nicht, sie verstieß lediglich gegen den guten Ton. |