Kreuzberger Chronik
Juni 2004 - Ausgabe 58

Die Geschäfte

Posamenten in der Zossener Straße


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von Horst Herrmann

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Man nannte sie auch »Schnurmacher« oder »Bremelmacher«. Heute, weitaus weniger poetisch, finden sich die seltenen Handwerker noch unter dem Oberbegriff »Schmucktextilienhersteller«, und meistens handelt es sich bei ihnen um die Fabrikanten solch modischer Erscheinungen wie Seidenrosen oder Haarschleifen. Damals aber, am 28. Januar 1910, als Theodor Wagler durch eine Urkunde des Ministers zum Königlichen Hoflieferanten ernannt wurde, sprach man vom »Posamentierer«, und was die Posamentierer herstellten, war kein modisches Accessoires oder überflüssiges Beiwerk, sondern für die Aristokratie unerläßlich: Posamente, das waren Besatzartikel, Borten, Schnüre, Quasten, Fransen, die in keinem guten Hause fehlten und Gardinen und Wandbehänge zierten, Bettbezüge und Polstermöbel. Die Posamentierer verstanden sich auf die kunstvollen Verflechtungen des seidenen Fadens, sie fertigten Litzen, Kordeln, Tressen, Pompons, Rosetten und die Epauletten für die Paradeuniformen der stolzen Armeen.

Als der Handwerksbursche Theodor Wagler über Leipzig und Erfurt nach Berlin kam, um am 17. Juni 1884 die Posamentierwarenfabrik Wagler zu gründen, war die Konkurrenz groß. Über vierzig Posamenterien konkurrierten um die Gunst der feinen Häuser. Doch Wagler war nicht irgendein Posamentierer, er hatte das Knüpfen und Flechten der Schnürchen und Kordeln im Blut. Als sein Sohn Kurt in den dreißiger Jahren den Nachweis der arischen Herkunft erbringen mußte und in den Trauregistern nachforschte, stellte sich heraus, daß die Kette der Posamentierer in seiner Familie bis ins Jahr 1728 zurückreichte. Das vorläufig letzte Glied dieser Kette ist Günter Wagler mit seiner Posamentenhandlung in einem schmalen Hinterhof in der Zossener Straße. Und er ist nicht nur das letzte Glied in der Waglerischen Kette, sondern der letzte Posamentierermeister in Berlin überhaupt.

Posamenten
Foto: Michael Hughes
Seine Auftraggeber sind keine Adligen mehr, sondern Bühnenausstatter, Theater, Hotels oder Museen. Er hat die Chicago Lyrics Opera geschmückt, das Teatro Real in Madrid, oder er knüpft die Quasten für das Deutsche Theater oder das Theater des Westens. Er macht das alles auch heute nicht viel anders, als es einst der Großvater Theodor und der Vater Kurt getan hatten. Zwar wurde die erste Waglerische Posamenterie in der Blücherstraße im Krieg vollkommen zerstört, ebenso wie die Zweigstellen und Lager in München und Düsseldorf, und alles, was dem Vater blieb, waren einige Rollen mit Garn, die er bei einem Freund auf dem Land deponiert hatte. Doch wie so viele nach dem Krieg begann der Mann von vorne, kaufte sich einige alte Maschinen zusammen und richtete sich auf drei Etagen in der Zossener Straße ein. Dort rattern die alten Maschinen noch immer, drehen sich die Lederriemen, greifen die großen Zahnräder lückenlos ineinander, setzen alles, was mit Hebeln und Gelenken verbunden ist, gleichzeitig in Bewegung, und schießen am Ende die hölzernen, glänzenden Schiffchen zielsicher durchs komplizierte Labyrinth der Fäden.

Es sind Museumsstücke, die hier arbeiten, aus schwarzem Eisen und vom Alter glänzendem Holz gefertigte Kunstwerke aus der großen Zeit des Maschinenbaus. »Noch nie ist da irgendwas kaputtgegangen!«, sagt der letzte in der Kette und legt die Hand auf einen alten Handwebstuhl. Die Eisengewichte zum Spannen der Fäden haben Form und Muster von Tannenzapfen, die Spindeln sehen aus wie große, hölzerne Zwirnrollen und sind von den unzähligen Fäden, die über sie liefen, und den unzähligen Handgriffen auf Hochglanz poliert. Doch die Männer, die sich auf diese Maschinen verstehen, sind so wenige geworden wie die Dampflokomotivführer. »Das sind eben keine Computer, die auf Knopfdruck funktionieren«, und es dauert, die Maschinisten an den Platiermaschinen, den Handwebstühlen, der Häkel-Gallon-Maschine oder am Jacquard-Bandwebstuhl anzulernen. Von den fünf Mitarbeitern, die noch geblieben sind von den 17, die es zum hundertjährigen Jubiläum 1984 noch waren, sind alle schon lange dabei, einer seit über vierzig Jahren.

Doch die Maschinen sind nur die Zulieferer, sie spinnen Seide um den billigen Baumwollfaden, drehen Fäden zu Schnüren oder weben Bänder und Bordüren nach komplizierten Mustern. Bis unter die Decke stapeln sich die Rollen mit selbstgedrehten Schnüren, und fast alle haben diesen goldenen, märchenhaften Schimmer. Sie sind der Rohstoff. Dann beginnt die Kunst, das Handwerk, das Aufziehen der Fäden auf die verschiedenen Holzformen zur Herstellung der Quasten. Oder das Flechten zu Troddeln. Oder das Knoten zu Mustern.

Posamenten
»Am Anfang war der Knoten«, sagt der Enkel des Königlichen Hoflieferanten und schlägt ein Lehrbuch auf, das selbst bei gestandenen Seemännern Schwindel erregt. Gegen die kunstvoll verschlungenen Knoten der Posamentierer sind der Palstek oder der Doppelte Palstek der Seefahrer Kinderschuhschleifen. Zwar tragen die Zierknoten und Gimpenschlüsse so harmlose Namen wie »Gewöhnliche Brezel« oder »Doppelte Brezel«, »Jagdknoten«, »Briefknoten« oder »Rosenknoten«, doch ist der Weg des Fadens für das ungeübte Auge nicht mehr nachvollziehbar. Der Knoten der Posamentierer ist ein Knoten ohne Anfang und Ende, und die Arbeit der Posamentierer ist so etwas wie die Kunst der komplizierten symmetrischen Verknüpfung zweier Enden eines Fadens.

Viele Meister auf dem Gebiet gibt es nicht mehr. Schon als Günter Wagler 1962 seine Meisterprüfung machen wollte, mußte der Prüfer aus Hameln anreisen. »Aber nur am Wochenende!«, sonst könne er überhaupt nicht kommen. Und auch Günter Wagler hat noch niemanden gefunden, der die Tradition aufrechterhalten könnte. Seine Töchter haben andere Wege eingeschlagen, spielen an Wiener Theatern oder arbeiten an sonnigen Gestaden im Tourismusgeschäft.

»Eigentlich suche ich jemanden, der das Geschäft weiterführen möchte!«, sagt der Enkel des Geschäftsgründers und streicht etwas nachdenklich über eine große, himmlisch blau schimmernde Quaste, die neben seinem Schreibtisch hängt. Jeder Zentimeter an ihr ist ein Kunstwerk. »Die wollen sie mir alle immer abkaufen!«, sagt Wagler. Aber die stammt noch aus den goldenen Jahren, aus jener märchenhaften Zeit, als die Waglers noch Königliche Hoflieferanten waren. <br>

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