Kreuzberger Chronik
Juli / August 2004 - Ausgabe 59

Strassen, Häuser, Höfe

Die Jahnstraße


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von Jürgen Jacobi

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Friedrich Ludwig Jahn wird am 11. August 1778 in dem kleinen Dorf Lanz in der Prignitz geboren. Als Sohn eines evangelischen Dorfpfarrers bleibt es nicht aus, daß ihn seine Mutter liebevoll indoktriniert, indem sie ihm schon im Alter von vier Jahren das Lesen anhand der Lutherschen Bibel beibringt. Sein Vater unterrichtet ihn in Geschichte, Erdkunde und deutscher Sprache. Mit 9 Jahren liest er regelmäßig Zeitungen und zitiert freistehend Passagen aus der Bibel. Zwar achten beide Elternteile darauf, daß sein Umgang mit den Dorfkindern beschränkt bleibt, ein Stubenhocker ist der kleine Friedrich Ludwig trotzdem nicht.

Im Gegenteil, er treibt sich regelmäßig unter Fischern, Schiffern und Fuhrleuten herum, lernt laut Legende von Soldaten das Reiten, von Grönlandfahrern das Schwimmen und von Schmugglern die Orientierung im Gelände. Der bibelfeste Friedrich Ludwig wird also durchaus kein frömmelndes, bläßliches Kind, nein, nach eigenem Bekunden schaut er sich von Affen, die sich der Mecklenburgische Herzog hielt, sogar noch das behende Klettern ab.

Aber bevor der kleine Fritz zu einem deutschen Tarzan werden kann, beginnt der leidvolle Schulweg. Für die Lateinschule in Salzwedel, die er mit 14 Jahren aufsucht, fehlt ihm nach Aussage eines Biografen »das Sitzfleisch«, außerdem bekommt er beim Schreiben oft den »Fingerkrampf«. Auch ein erneuter Bildungsversuch im Grauen Kloster zu Berlin schlägt fehl. Fritz macht sich aus dem Staub und läßt seine Schuluniform am Kottbusser Tor zurück, sodaß bald das Gerücht zirkuliert, er sei beim Baden ertrunken.

Er stromert ein bißchen herum, liegt zeitweilig bei einem Freund mit Nervenfieber nieder, taucht aber dann wieder zu Hause auf. Auf Drängen seines Vaters, der noch immer einen Theologen aus ihm machen möchte, bereitet sich Jahn auf die Aufnahme an der Universität Halle vor. Eine Reifeprüfung ist damals noch nicht Voraussetzung. Während der fünf Jahre, die er eingeschrieben ist, unternimmt er Streifzüge und Wanderungen, die ihn angeblich 10 weitere Hochschulen kennenlernen lassen. Zeitweise lebt er wie ein vorzeitiger Hippie in einer Höhle am Saaleufer nahe Halle. Dort schreibt er – ob nun mit oder ohne Fingerkrämpfe, ist nicht bekannt – ein Buch: »Über die Beförderung des Patriotismus im preußischen Staate«. Aus Geldnot verkauft er das Buch einschließlich der Autorenrechte für 10 Taler. Die folgenden Jahre verbringt er bei mehreren Familien als Hauslehrer.

Friedrich Ludwig Jahn
Foto: Dieter Peters
Als 1806 im Krieg zwischen Preußen und Frankreich bei Jena und Auerstedt die Entscheidungsschlacht zugunsten der Franzosen stattfindet, eilt Jahn als Freiwilliger hinzu. Allerdings kommt er zu spät. Beim Anblick der Toten färbt sich dem Ex-Theologiestudenten das Haar schlagartig grau. In der Folge irrt er von einem Kriegsschauplatz zum andern, manchmal ihn suchend, manchmal ihn fliehend.

Im Herbst 1809 zerschlagen sich seine Hoffnungen auf eine Stellung an der neugegründeten Hochschule in Berlin (Humboldt-Universität). Seine Griechisch- und Lateinkenntnisse reichen nicht aus. Aber er erhält eine Anstellung als Lehrer am Grauen Kloster, eben jener Schule, der er vor Jahren den Rücken gekehrt hat. Mit seinen Schülern zieht er zu allerlei Leibesübungen und Spielen in die Hasenheide, einem damaligen Föhrenwald vor den Toren der Stadt.

Jahn hatte endlich seine Bestimmung gefunden. 1811 wird ein inzwischen mit Kletterseilen, Reck, Barren, Balancierbalken und anderen Geräten ausgestatteter Turnplatz in einer Zeitungsmeldung erwähnt. Ein Jahr später schreibt Der Beobachter an der Spree: »Wenn die Jugend erst im Klettern, Springen, Lastentragen, Gleichgewichthalten, im Ringen, Laufen, und im kleinen Kriege geübt ist, so wird sie auch leicht schießen und treffen, marschieren, schwenken, Linie halten lernen.«

Was sich wie die Beschreibung paramilitärischer Übungen liest, wird schon im Befreiungskrieg gegen Napoleon ein Jahr später zur Realität. Inzwischen war durch eifriges Betreiben Jahns eine regelrechte Turnbewegung entstanden. Ihre Mitglieder, meist Studenten und gehobenes Bürgertum, zogen als Freikorps unter Führung Jahns gegen Napoleon. Der kleine Franzose spöttelt zwar anfangs über die »Enfanterie«, zu seiner Niederlage bei Leipzig tragen die schwarz-rot-gold uniformierten Freikorps aber nicht unwesentlich bei. Napoleon hinterläßt zwar Zehntausende von Toten im feudalen Europa, aber ebenso die Saat demokratischen Gedankenguts: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit.

F.L. Jahn ist ein glühender Verfechter eines geeinten Deutschland. Zur Durchsetzung seiner politischen Ziele läßt er an mehreren Universitäten sogenannte »Burschenschaften« gründen. Als im Jahr 1819 der Student Karl Ludwig Sand, ein Burschenschafter, den Herausgeber antinationaler Zeitschriften, August von Kotzebue, ermordet, bietet dies den willkommenen Anlaß zur »Demagogenverfolgung«. Mit den Karlsbader Beschlüssen unter Führung Fürst Metternichs werden Zensur, Bespitzelung und willkürliche Verhaftungen legitimiert.

Jahns gesellschaftlicher Aufstieg als Held der Befreiungskriege und Erzieher der deutschen Jugend wird jäh gebremst. Man vermutet in ihm den Drahtzieher hinter den radikalen Burschenschaften. In der Nacht zum 14. Juli 1819 wird er unter Anklage des Hochverrats verhaftet. Die Turnplätze werden als Brutstätten nationalen und demokratischen Gedankengutes angesehen und im selben Jahr geschlossen. Bis zum Jahre 1825 folgen für Jahn Festungshaft, Verteidigungsschriften, neue Anklagen, Hausarrest, und schließlich Freisprechung unter Auflagen: Er darf sich weder in Berlin noch in der Nähe von Universitäten aufhalten. Die polizeilichen Einschränkungen werden erst 1840 vom neuen Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. aufgehoben. Jahn wird rehabilitiert und erhält als Anerkennung seiner Verdienste um die Jugend sogar das Eiserne Kreuz. Zwei Jahre später werden auch die Turnplätze wieder geöffnet.

Um Friedrich Ludwig Jahn wird es still. 1848 wird er Abgeordneter der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. In einer Rede sagt er: »Deutschlands Einheit war der Traum meines erwachenden Lebens, das Morgenrot meiner Jugend, der Sonnenschein der Manneskraft und ist jetzt der Abendstern, der mir zur ewigen Ruhe winkt.« Die ewige Ruhe ereilt ihn dann am 15. Oktober 1852 in Freyburg an der Unstrut.

Das süßliche Pathos, die nationale Rührseligkeit – 1848 mag F.L. Jahn den Ton seiner Zeit auf den Punkt getroffen haben. Heutzutage rührt sich in vielen von uns ein kleiner Jahn fast nur noch nach Siegen deutscher SportlerInnen im internationalen Vergleich. Und das ist auch gut so.

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