Juli / August 2004 - Ausgabe 59
Die Reportage
Die unendliche Geschichte vom Viktoria Quartier (4): Die unendliche Geschichte vom Viktoria Quartier von Hans W. Korfmann |
Zwei Jahre ist es her, da spukte das Gespenst des Viktoria Quartiers zum letzten Mal durch den Berliner Blätterwald. Nachdem die Deutsche Bank und die Firma Realprojekt das Projekt als unrealistisch eingestuft und aufgegeben hatten, interessierte sich ein Unternehmen aus Bayern für das idyllisch gelegene Gelände unter dem Gipfel des Kreuzbergs. Um den Zuschlag zu bekommen, versicherten die Bayern, am alten Konzept festzuhalten, das vorsah, keine neue Siedlung, sondern eine Mischung aus Kultur- und Wohnraum auf dem Gelände der denkmalgeschützten Schultheissbrauerei entstehen zu lassen. Sie erhielten die 50.000 Quadratmeter inklusive teilweise bezugsfertiger, teilweise bereits vermieteter Wohnungen zu einem Schnäppchenpreis von 15,6 Millionen. Tatsächlich machten sich einige Monate später auch mehrere Handwerker daran, Leben in die Bauruine zu bringen: Sie setzten Fenster und Türen in einen Zementquader, beendeten einige vom Vorgänger bereits begonnene Feinarbeiten und behoben die Mängel, über die sich die ersten ins neue Quartier gezogenen Mieter beschwerten. Darüber hinaus begruben sie die Idee von der Berlinischen Galerie, hoben Stahl- und Betonträger, die einmal die neue Decke des unterirdischen Kunstarchivs in den Brauereigewölben tragen sollten, wieder aus ihrer neuen Verankerung und schütteten das Loch mit jenem märkischen Sand zu, den die Vorgänger ausgegraben hatten. Die gigantische Buddelaktion kostete eine Unsumme, die niemand mehr genau berechnen möchte. So wächst auch hier allmählich Gras über die Geschichte: Vergessen der Protest der Erstmieter, deren Verträge vom neuen Eigentümer für ungültig erklärt wurden, vergessen die Transparente der Betroffenen, die das Viktoria Quartier zum »Skandalquartier« machten, vergessen die bajuwarische Arroganz, mit der die Baywobau selbst den Kreuzberger Baustadtrat als Vermittler ablehnte. Vergessen die absurden Verhandlungen vor Gericht, bei denen die Mieter am Ende verloren und das Baufeld räumen mußten. Vergessen, denn inzwischen sind neue Mieter in die alten Gemäuer eingezogen, haben Blumenkästen aufs Straßenpflaster gestellt und genießen die Stille der Baustelle. Verkaufen nämlich konnte auch die Baywobau die gewaltsam von den Mietern befreiten Lofts am Ende nicht. Also verlegte man sich vom Verkaufen wieder aufs Vermieten, doch auch das schien nicht einfach. Noch im Mai des Jahres 2004 bot eine Immobilienfirma »160 Quadratmeter, 4 Zimmer, 60 Quadratmeter Terrasse« in der Zeitung an. Das Tivoligebäude. Foto: Dieter Peters
Dabei hatten die neuen Eigentümer eigentlich versprochen, bis zum Ende des Jahres 2004 mindestens 100 Millionen Euro zu verbauen. Unabhängig von Nachfrage und Markt. Zu sehen ist von verbauten Millionen nichts. Womöglich sind sie alle in besagter Grube verschüttet. Von den rund 100 Gebäuden jedenfalls, die noch auf den Plänen der Firma Realprojekt eingezeichnet waren, ist noch keines zu sehen. Und durch das zentrale Tivoli-Gebäude der alten Brauerei weht noch immer der Wind, von neuen Türen und Fenstern keine Spur. Obwohl der Erhalt der alten Bausubstanzen keine Kür ist, sondern Pflicht. »Ein würfelartiges Kopfhaus«. Foto: Dieter Peters
Doch die Renovierung des denkmalgeschützten Gebäudes dürfte außerordentlich kostenintensiv werden. Und damit eine sozusagen unrealistische Investition. Auch Realprojekt hatte mit den alten Backsteinbauten offensichtlich wenig Glück gehabt. Wesentlich interessanter dagegen sind für die Immobilienhändler kostengünstige Neubauten in Toplage, mit Blick auf den Park. Deshalb sollen im Herbst erst einmal zwölf neue Reihenhäuschen gebaut werden, gleich neben dem geplanten »Weinberg« und der Treppe, die zum Denkmal führen soll. Eine Baugenehmigung sei schon vorhanden. Und anschließend sollen in unmittelbarer Nähe zwei würfelartige »Kopfhäuser mit großzügigen Eigentumswohnungen ab 160 Quadratmetern« in den Himmel über Berlin wachsen, von deren Dachterrassen aus man dann etwa auf gleicher Höhe mit dem Denkmal wäre. Mit den sommerlichen Parties am Schinkel-Denkmal und den silvesterlichen Raketenstarts zwischen knallenden Sektkorken und Haschischwolken wird es endgültig vorbei sein, wenn die neue Nachbarschaft auf Ruhe pocht. Seit dem Verkauf des Grundstückes an die Baywobau ist klar, daß jene Skeptiker Recht behalten könnten, die von Anfang an befürchtet hatten, hier entstehe kein »Stadtteil für Wohnen, Arbeiten und Kultur«, sondern ein Viertel mit »Doormen«, »Townhouses« und »privatem Wachschutz«. Ein Viertel für eine Klientel, die wenig mit Kreuzberg und den Trommlern im Park harmonisiert. Die vereinzelten kulturellen Veranstaltungen »im historischen Ambiente« haben jedenfalls entweder eine Alibifunktion oder sollen potentielle Käufer auf das Gelände locken. In den neuen Altbauten, in denen seit vier Jahren Menschen wohnen, will keine rechte Stimmung aufkommen. Die Bewohner der Lofts sitzen schweigend auf den Balkonen wie zweiwöchige Urlauber am Badeort aus der Retorte. Und auch, wenn etliche Quadratmeter im historischen Teil der neuen Stadt als Gewerbeflächen definiert wurden, sind Stühle vor einem Café oder Passanten vor einem Schaufenster noch immer Zukunftsvisionen. Nachts ist das neue Viertel so leer wie die fertiggestellte Tiefgarage mit ihren 600 Stellplätzen. 1.300 Menschen, so die unrealistischen Pläne von Realprojekt, sollten bereits im vergangenen Jahr die Stadt beleben. Es sind knapp 200 geworden. »Feuchtigkeit nagt an den Nahtstellen ...« Foto: Dieter Peters
Doch Thomas Gerlach, der zweckoptimistische Verkaufsleiter der Baywobau, sieht die Dinge anders. In einem Artikel der Berliner Zeitung beschreibt er das paradiesische Leben im Viktoria Quartier: »Im Sommer stellen die Bewohner ihre Gartenmöbel auf den Schmiedehof und es entsteht das Flair einer südeuropäischen Stadt«. Der Mann hat Visionen. Realität dagegen sind die rostigen Eisen, die aus dem Dach der Tiefgarage ragen und zum Schutz vor Korrosion in Plastikfolien gepackt worden sind. Hier sollte einmal weitergebaut werden. Doch längst haben Wind und Wetter die Schutzmaßnahmen zerfetzt, Feuchtigkeit nagt an den Nahtstellen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und während die Türen zu den denkmalgeschützten Backsteinbauten offenstehen, immerhin Obdach bieten für Obdachlose und streunende Katzen, Hunde und Ratten, während die Dächer allmählich lecken und die Keller immer feuchter werden, während die alte Bausubstanz dem Zahn der Zeit überlassen werden, damit ihre Instandsetzung immer unrentabler erscheint, kümmert sich die Baywobau unverdrossen um die Vermarktung ihrer Neubauten: »Exklusives Penthouse, Baujahr 2004, mit ca. 129 m2 Wohnfläche und 3 Zimmern im 4. Obergeschoss eines attraktiven Neubaus unmittelbar am Viktoria Park in Berlin Kreuzberg. Das großzügige Penthouse mit ca. 100 m2 umlaufender Dachterrasse ist hochwertig ausgestattet. Sehr reizvolle großstädtische Lage auf dem Areal der ehemaligen Schultheiss-Brauerei mit seinen denkmalgeschützten, ab 1862 im Stil der Backsteingotik errichteten Industriebauten am Südhang des Kreuzbergs. Kaufpreis ¬ 356.000,-. Sie zahlen keine zusätzliche Provision.« Foto: Dieter Peters
Die zwei jungen Neuberlinerinnen jedoch sind von der Realität enttäuscht. »Das ist es wohl nicht!«, meint die eine. »Ein bißchen zu spießig!«, sagt die andere und sieht sich in der Musterküche eines kleineren und 200 Euro günstigeren Lofts um. Blumen stehen am Fenster, ein Sofa, sogar der Tisch ist gedeckt. Für vier Personen, gegenüber der gemütlichen Attrappe eines Kamins. Ob man in dem zweistöckigen Gebäude allerdings einen realen Kamin installieren könnte, ist zweifelhaft, denn der Qualm würde bei den höhergelegenen Nachbarn geradewegs ins Zimmer wehen. Aber das sagt der Verkäufer nicht. Das sagt niemand, der irgendetwas mit der Geschichte zu tun hat. |