Juli / August 2004 - Ausgabe 59
Der Kommentar
Kellerkinder zwischen Ränke und Ranking von Thomas Heubner |
Nach den Gesetzen der Aerodynamik dürfte die Hummel nicht fliegen. Zum Glück kennt die Hummel diesen Codex nicht und schwirrt fröhlich in der Frühlingssonne. Gleichzeitig präsentiert uns Sozialsenatorin Heidi Knaake-Werner einen »Sozialstrukturatlas« der Hauptstadt. Prima Sache. Soziologen untersuchen darin den Sozial- und Status-Index in den Berliner Bezirken und Quartieren, also den Anteil von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, Bildungszustand, Altersstruktur usw. Außerdem beschreiben sie die entsprechende Lebenslage, nicht das Lebensgefühl. Ähnlich wie beim modischen Wetterbericht, wo kurioserweise zwischen tatsächlicher und gefühlter Temperatur unterschieden wird. Und man kommt zu der bemerkenswerten Einsicht, daß in Berlin die Schere zwischen arm und reich immer schneller und weiter auseinanderklafft. Über eine halbe Million Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze von 608 Euro netto im Monat, also jeder sechste, in Kreuzberg sogar jeder vierte. Hier ist auch die durchschnittliche Lebenserwartung um fünf Jahre geringer als im benachbarten Treptow. Zudem haben wir den höchsten Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, dafür aber das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen. So weit, so schlecht. Nur so zum hanebüchenen Vergleich: Der victory man alias Josef Ackermann, der sich durch mutige Ränke bei Konzernverkäufen auszeichnet, »verdient« im Jahr rund 11 Millionen Euro. Das sind – großzügig alle Tage des Jahres mit acht Arbeitsstunden gerechnet – 30.000 Euro täglich. Von seinem 3.700-Euro-Stundenlohn könnten sechs Berliner Sozialhilfeempfänger einen ganzen Monat leben! Oder Bankpleitier Landowsky mit seinen rund 20.000 Euro monatlichem Ruhegeld. Haben er und seine Kumpel von der ehrenwerten Berliner Gesellschaft jemals bei der Stromrechnung der BEWAG gestutzt? Kam ihnen das große Würgen, als sie ihre aktuelle Betriebskostenabrechnung und den neuen Mietpreis lasen? Erfanden die den Begriff von Kindern als »Armutsrisiko«? Scheißegal, wenn man in Zehlen- oder Reinickendorf logiert. Daß allerdings die wonnetrunkenen Berliner in Alt-Gatow und die Bedauernswertesten der Hauptstadt ausgerechnet zwischen Görlitzer und Viktoriapark wohnen sollen, macht doch ein bißchen stutzig. Dies nämlich suggeriert besagter Sozialatlas, in dem 300 Kieze in einer Rangliste aufgereiht werden, neudeutsch auch Ranking genannt. Dort dümpeln Kreuzbergs Quartiere traurig und abgeschlagen unter den letzten 40 Plätzen. Vom Viktoriapark über Zossener Straße, Südstern bis Mariannenplatz reicht man sich weinend die rote Laterne weiter. Im Würgegriff des Elends trainieren wir Kellerkinder fleißig die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: gehen stempeln in die Charlotten- und shoppen in die Bergmannstraße, schlürfen unser Bier im Golgatha, nippen Kaffee am Moritzplatz, stänkern gegen die Privatisierung von Häusern und Wohnungen im Waldekiez. In einem Punkt aber gehören wir Kreuzberger zur Berliner Spitze: Wir haben einen hohen Anteil von Akademikern. Vielleicht liegt es ja an der hiesigen Vergeistigung, daß wir selbst nicht mehr wahrnehmen, wie nur noch tote Seelen durch unseren Kiez vagabundieren. Nach den Ergüssen des Berliner Sozialatlasses jedenfalls dürften kaum noch Vernünftige und Tüchtige in Kreuzberg leben. Aber zum Glück kennen wir Kreuzberger unseren Status-Index nicht. <br> |