Juli / August 2004 - Ausgabe 59
Herr D.
Herr D. vor dem Fernseher von Hans W. Korfmann |
Im Grunde interessierte sich Herr D. nicht für Sport. Nicht einmal für Fußball. Doch der Sport verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Sogar bis nach Kreuzberg. Herr D. ging in seine Akademiker-Stammkneipe und stieß plötzlich auf betrunkene Hertha-Fans, er kam an den Sporthallen vorüber, aus denen bis spät in die Nacht hinein beängstigendes Kampfgeschrei drang, und im Park trainierten Heerscharen von Marathonläufern. Wenn er abends den Fernseher einschaltete, sah er Rudi Völler, der versuchte, dem Kneipier lässig die Hand auf die Schulter zu legen und möglichst locker und kumpelhaft diesen einen Satz zu sprechen: »Und du gehörst zu uns!« Der Trainer war der ungeschickteste unter den hochdotierten Laiendarstellern im allabendlichen Kurzfilmwettbewerb der Privatsender. Die einzige Sportart, die Herrn D. interessierte, war die Formel 1. Aber auch Michael Schumacher war kein geborener Filmstar und machte beim 14-täglichen Pflichtlauschen der italienischen Nationalhymne stets das gleiche Gesicht und die zackigen Armbewegungen eines preußischen Kapellmeisters. Nur, wenn der Weltmeister schwieg und an seinem Fläschchen nuckelte, während der rasende Reporter Ebel, der sämtliche Prominenten am Streckenrand wie eine verängstigte Schafherde vor sich hertrieb, krampfhaft nach neuen Fragen suchte, konnte Herr D. ihn ertragen. »Weshalb sehen Sie sich das eigentlich an?«, fragte die Liebich am Wochenende vor dem Rennen, »dieses stumpfsinnige Herumfahren im Kreis? Ich meine, wenn zwanzig Leute einem Ball hinterherrennen, ist das zwar auch nicht gerade der Höhepunkt der menschlichen Evolution, aber immerhin: Sie schießen Tore.« Herr D. fand, daß dieses ewige Genörgel über im Kreis fahrende Autofahrer auch nicht gerade der letzte Schrei der Menschheit sei, und sagte: »Wenn Ihnen das Kreisen nicht gefällt, warum regen Sie sich dann nicht auch über die Langstreckenläufer oder die Eisschnelläufer auf? In den Sportstadien geht es eben im Kreis herum, seit zigtausend Jahren, schon in Olympia, im Kolosseum … Und plötzlich kommen Sie daher und behaupten, das wäre alles Schwachsinn.« Aber überzeugen konnte Herr D. nicht. Auch bei den emanzipierten Kreuzbergerinnen hatte er wenig Chancen: »Ja, aber andere Sportler bewegen sich wenigstens noch. Dieser Schumacher bewegt doch nur noch den Fuß und die Arme. Jeder Rollstuhlfahrer ist sportlicher!«, sagte die Kurzhaarige und sah ihn verächtlich an. – »Aber langsamer!«, sagte Herr D. – »Na und«, rief die Kreuzbergerin, »Na und! Haben Sie vielleicht jemals eine Frau so rasen sehen?« Herr D. hätte sich rechtfertigen können. Aber was hätte es für einen Sinn gehabt, wenn er diesen rasenden Automobilsportfeinden erzählte, wie er einst mit seinem Vater über die Absperrung des Boxenbereichs auf dem Nürburgring geklettert war, wie Jochen Rindt, Jacky Stewart, Bruce McLaren dem kleinen Jungen mit der großen Kamera zugelächelt hatten? Wie er seine Nase in diese stinkenden Motoren hatte stecken dürfen, wie er den Benzingestank quasi mit der Muttermilch aufgenommen hatte. Deshalb saß Herr D. am Wochenende einsam vor seinem Fernseher und sah Kai Ebel und den Mann mit dem halben Ohr und dem Käppi auf dem verbrannten Schädel. Er sah, wie die Sicherheitskräfte einen Mann festnahmen, der, wie einst der Vater mit seinem Jungen, über den Zaun geklettert war. Er sah, wie ihm keiner zulächelte, wie sie ihn zu Boden warfen, als handele es sich um einen terroristischen Kamikazepiloten, der New York anfliegt. Und wie dann der Werbeblock kam, mit Völler, Mercedes und BMW. Mitten in Kreuzberg. <br> |