Dez. 2004/Jan. 2005 - Ausgabe 63
Strassen, Häuser, Höfe
Kreuzberger Ärzte (3): Der Alfred-Döblin-Platz von Jürgen Jacobi |
Alfred Döblin, Arzt und Schriftsteller, veröffentlicht 1929 im Fischer Verlag den Großstadtroman Berlin Alexanderplatz. Der Autor, bis dahin mit einigen Werken nur in literarischen Kreisen bekannt, wird zum international anerkannten Schriftsteller. Der Mythos um die Großstadt Berlin zwischen den Weltkriegen wäre ohne das Buch um ein entscheidendes Kapitel ärmer. Allerdings beschreibt Döblin nicht, was die damalige Avantgarde der Maler, Musiker oder Theaterleute bis auf den heutigen Tag als Klischee in unsere Köpfe gepflanzt hat. Wir sehen keine extravaganten Kokotten à la Kirchner, wir hören keine Jazzmusik, amüsieren uns nicht beim Anblick von Josephine Baker, wir erleben keine koksende Schickeria im Berliner Westen. Ganz im Gegenteil: Döblin führt uns ins Tiefparterre der Ostberliner Arbeiterbezirke, in dunkle Hinterhöfe, ins Zwielicht und die Zwielichtigkeit verräucherter Kneipen, er belauscht für uns die Gespräche der Diebe und Hehler, der Arbeitslosen und Luden, er verrät uns die harmlosen Träume der Strichmädchen und Kleinbürger. Auch sie träumen von einem großen Stück des Kuchens, von Vergnügen und Geld, all dem, was Döblin mit dem Begriff »Die große Hure Babylon« zusammenfaßt. Wer nun den trotzigen Lebenswitz eines Heinrich Zille in Worten erwartet, oder etwa gar den aufrechten Gang eines Vertreters der Arbeiterklasse, der wird enttäuscht werden. Denn: als Konzept in literarisch-revolutionärem Montagestil gehalten, im Sprachstil von expressionistisch bis futuristisch pendelnd, mit prophetisch-biblischen Einleitungen zu jedem Kapitel, führt Döblin mit Distanz und Nüchternheit seinen Protagonisten Franz Biberkopf durch die Quartiere rund um den Alexanderplatz. Schon die erste Auflage übersteigt 50.000 Exemplare, in den folgenden Jahren wird der Großstadtroman in mehrere Sprachen übersetzt. Gleichzeitig, im Erscheinungsjahr des Romans 1929, steigt die Zahl der registrierten Arbeitslosen innerhalb von 14 Tagen von 2 auf 3,2 Millionen. Das Opel-Werk in Rüsselsheim wird von General Motors geschluckt. Trotzki wird aus der Sowjetunion ausgewiesen. Mussolini festigt seine Macht durch die Lateran-Verträge. Die KPD ruft trotz Demo-Verbotes zur Teilnahme an der 1. Mai-Kundgebung auf. 13.000 Polizisten gehen gegen die Demonstranten vor. Es gibt Verletzte, es gibt Tote. Tote gibt es auch in Döblins Roman. Viele Tote. Seinen exemplarischen Auftritt hat der Tod bei Döblin in einem Berliner Schlachthaus: »Ritsch, ritsch, die Adern rechts, die Adern links. Rasch rühren. So. Jetzt läßt das Zucken nach. Jetzt liegst du still. Wir sind am Ende von Physiologie und Theologie, die Physik beginnt.« Den gewaltsamen Tod eines Mitmenschen, selbst den der Geliebten Biberkopfs, schildert Döblin lediglich als letale Folge mechanischer Einwirkung (Franz hat einen Sahneschläger benutzt) auf einen gegen solche Ursachen letztlich nicht gewappneten Organismus: »… komplizierter Rippenbruch, Riß im Brustfell, kleiner Lungenriß, anschließendes Emphysem, Brustfellerweiterung, Lungenentzündung, Mensch, das Fieber geht nicht runter, wie siehst du schon aus, nimm dir ’n Spiegel, Mensch, du bist erledigt, du bist hin, du kannst einpacken.« Im Falle des Totschlägers Biberkopf heißt der Mitmensch Ida. Franz ist (Franz war?) Totschläger aus unkontrolliertem Jähzorn. Ida in den weißen Segelschuhen, deren große Freude das Tanzen war … – Für Ida gibt es vier Jahre Knast in Tegel. Das war zu ertragen. Geregelter Tagesablauf, pünktlich was zu futtern, obschon manchmal ein bißchen wenig für den zwei Zentner schweren Häftling Biberkopf. Das Problem beginnt mit der Entlassung. Die Angst vor der Freiheit. Franz, ein Kerl wie ein Schrank, breite Schultern, Muskelpakete, hat Panikattacken. Wenige Minuten in Freiheit, geht er schon in die Knie vor dem Moloch Stadt. Aber der Mensch muß was zu fressen haben. Also her mit den Mini-Jobs. Und wenn’s der Verkauf völkischer Zeitungen ist. Die Zeiten sind (wieder mal) nicht einfach. Franz geht auch als Hausierer in Sachen Schnürsenkel und anderen Krempels. Es ist eine Art »Ich-AG«, allerdings ohne staatliche Übergangshilfen. Dem Staat geht’s (wieder mal) auch nicht gut. Die Börse verzeichnet einen lustlosen Verlauf, später massive Einbrüche in Hamburg und London. Franz hat Glück. Eine gute Freundin schanzt ihm eine von der Straße zu. Franz wird aus Zufall wieder Zuhälter. Franz liebt seine Mieze aufrichtig und innig. Döblin: »Die sexuelle Potenz kommt zustande durch das Zusammenwirken 1. des innersekretorischen Systems, 2. des Nervensystems und 3. des Geschlechtsapparates. Weiterhin beteiligte Drüsen sind: Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere, Vorsteherdrüse, Samenblase und Nebenhoden.« Aber Döblin weiß auch: Bevor es dann wirklich losgeht, müssen noch einige seelische Hemmschwellen überwunden werden, als da sind Moralbedenken, Angst vor Blamage, Ansteckungs- und Schwängerungsfurcht. Klappt’s nicht, hilft u. U. Testifortan, ein Sexualtherapeutikum von Dr. Magnus Hirschfeld. Biberkopf ist ein Bär, fast zwei Meter groß und fast zwei Zentner schwer. Tapsig und gutmütig ist er auch. Der Leser mag ihn. Totschläger hin oder her. Allerdings möchte man ihm manchmal ein »Mann, bist du blöde« zurufen. Außer Schweinshaxen und Korn braucht der Mensch auch den Menschen. Zum Quatschen, zur gegenseitigen Anerkennung. Auch Franze braucht Freunde, Anerkennung. Aber dieser Drang macht ihn ein bißchen einäugig, und mir nichts dir nichts ist er bei einem krummen Ding dabei. Franz wird Mittäter aus Naivität. Er kommt im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder. Er rappelt sich auf. Allerdings kommt ihm bei der Angelegenheit sein rechter Arm abhanden. Er hadert, er schmollt, zieht sich zurück, hat seine Lektion aber immer noch nicht begriffen. Wer nicht verstehen will, wird um den Verstand gebracht. Franz verliert aus eigener Schuld, was ihm am liebsten ist. Döblin, langjährig tätiger Psychiater mit Wohnung und Praxis in den Arbeiterbezirken Kreuzberg und Friedrichshain, führt seine Hauptfigur distanziert und emotionslos in den psychischen Kollaps und nahe an den Tod. Der Tod ist der große Gegenspieler der Hure Babylon. Er ist der große Mahner und Trommler. Döblin, als Sohn jüdischer Eltern am 18. August 1878 geboren, floh einen Tag nach dem Reichstagsbrand vor den Nazis über die Schweiz und Frankreich in die USA. 1945 kehrte er zurück und starb, fast vollkommen erblindet und gelähmt, nach langer Krankheit am 26. Juni 1957 im Landeskrankenhaus Emmendingen. |