Dez. 2004/Jan. 2005 - Ausgabe 63
Die Reportage
Der Weiße Ring in Kreuzberg von Ingrid Weber |
Wer von den vor der Wende Geborenen kennt ihn nicht mehr? Wer hat ihn nicht über die Schwarzweißfernseher flimmern sehen, den Mann mit der leisen, warnend-moralischen Pastorstimme, mit den dramatisch traurigen Augen, diesen braven Polizeibeamten, der für seine Mitarbeiter an den Telefonen immer noch ein müdes Lächeln übrig hatte? Diesen höflichen netten Onkel aus dem Fernsehen, der es dennoch faustdick hinter den Ohren hatte? Er war der Schrecken aller Gauner und Gangster, die ihn Ede nannten und um ihr Leben rannten, sobald er die Verfolgung aufnahm und ihr Bild in Millionen deutscher Wohnzimmer strahlte. Wer kennt ihn nicht, Eduard Zimmermann, den Kommissar XY? Den Mann, für den die Welt so einfach strukturiert war wie die ersten Fernseher: Schwarz und Weiß. Täter und Opfer. Während er die einen gnadenlos verfolgte, versuchte er die anderen zu schützen, indem er sie warnte, die neuesten Tricks verriet und allgemeine Verhaltensregeln verkündete. Für diejenigen aber, die bereits ausgeplündert, vergewaltigt oder betrogen worden waren, gründete Zimmermann 1976 den Weißen Ring. Zimmermann hatte erkannt, daß mit dem Inhaftieren des Täters die Geschichte nur für die Polizei und die Gerichte abgeschlossen war, für die Betroffenen oft jedoch noch lange nicht. Handelte es sich doch häufig um Jugendliche und Kinder, oder um alte Menschen mit geschwächten sozialen Wurzeln, denen man das letzte bißchen Geld aus der Handtasche klaute. Und damit gleichzeitig das letzte bißchen Vertrauen in diese Welt. In keiner seiner Sendungen vergaß der Kommissar, um Spenden zur Unterstützung der Organisation zu bitten, die sich um die psychologische Betreuung und die juristische Unterstützung der Opfer kümmerte. XY ist lange ausgelaufen. Der Weiße Ring ist geblieben. Bundesweit 60.000 Mitglieder zählend und 2.300 ehrenamtliche Mitarbeiter beschäftigend ist der Weiße Ring zu einem Rettungsreifen geworden, nach dem immer mehr Betroffene greifen. Die steigende Zahl der Hilfesuchenden ist einerseits auf den wachsenden Bekanntheitsgrad der Institution mit inzwischen über 400 Außendienststellen zurückzuführen, andererseits aber auch mit einer Kriminalitätsrate zu erklären, die in einem zunehmend verarmenden Staat notwendigerweise wächst. 6,3 Mio. Straftaten werden derzeit jährlich in Deutschland registriert. Auch in Kreuzberg steigt die Kriminalitätsrate. Etwa 50% der hier verbuchten Fälle sind Diebstahldelikte, sagt Heidi Schäler, verantwortlich für den Berliner Multikulti-Bezirk. Die meisten der Opfer sind Rentner. Menschen, die bei Karstadt am Hermannplatz an der Fleischtheke für eine Sekunde ihre Geldbörse aus der Hand legen, um den Kaffee aufs Tablett zu stellen, und sie in der nächsten Sekunde verzweifelt suchen. Niemand hat etwas gesehen, die Verkäuferin nicht, und die Menschen neben der alten Dame erst recht nicht. Alle glauben, die alte Frau habe ihre Geldbörse in ihrer Altersverwirrtheit verlegt. Auch der 86jährige Rentner, der einem Schreiner die Tür öffnete, der vorgab, im Auftrag der Hausverwaltung gekommen zu sein, um Türen und Fenster zu kontrollieren und abzudichten, gab vor allem sich selbst die Schuld am Unglück. Wahrscheinlich hätte er sich nie an den Weißen Ring gewendet, hätte man ihm nicht die komplette Rente aus der Börse geklaut. Nun konnte er nicht einmal mehr die Miete bezahlen. Aber da der Weiße Ring in solchen Fällen auch mit finanziellen Mitteln aushilft, wählte er die Nummer der Außenstelle Berlin Süd II: 78 89 99 94. Daß der Weiße Ring über Bargeld verfügt, um Opfern in der Not zu helfen, hat sich nicht nur unter den potentiellen Opfern, sondern auch unter den Tätern herumgesprochen. Kürzlich wurde die Kreuzberger Außenstelle stutzig, als eine Frau eine ziemlich widersprüchliche Geschichte von einem Diebstahl erzählte, bei dem sie ihre komplette Sozialhilfe verloren habe. Als die Kreuzberger Mitarbeiterin den Fall in der Zentrale des Weißen Rings vorbrachte, stellte sich heraus, daß die angeblich Bestohlene die gleiche Geschichte schon einmal erzählt hatte. »Und wenn da eine Frau zu mir kommt und erzählt, daß sie nachts um drei einen Typen aus der Kneipe abgeschleppt hat, der dann irgendwann in der Nacht über sie herfällt und sie, wie sie sagt, vergewaltigt, weil sie plötzlich keine Lust mehr hat, dann hat sie sich ein Stück weit auch selbst in diese unglückliche Lage hineinmanövriert.« Und kann nicht die gleiche juristische Unterstützung erwarten wie eine sechzehnjährige Schülerin, die auf dem Schulweg von einem Unbekannten in einen Hauseingang gezerrt wird. Heidi Schäler, Außenstellenleiterin Süd II, ist keine Frau, die zu großer Sentimentalität neigt. Zu lange war sie als Heimleiterin mit problematischen Jugendlichen beschäftigt, um nicht pragmatisch geworden zu sein. Sie kennt die »Täterklientel«. Jetzt lernt sie die andere Seite kennen. Sie ist die richtige Frau für diesen Job. Denn während die Vereinsbroschüren des Weißen Ring mit blutroten Überschriften im Bildzeitungsstil – »Auftragskiller folterten ihre Opfer die ganze Nacht« – und Fotografien von blaugeprügelten Frauen sorglos Stimmung gegen die Täter macht, sieht Heidi Schäler die Dinge distanzierter. Kreuzberg ist nicht Mainz oder Wilmersdorf. In einem Viertel wie Kreuzberg, Spitzenreiter in der Berliner Armutsstatistik, muß man lernen, sogar noch unter den Opfern »die Spreu vom Weizen zu trennen.« Die Welt des 21. Jahrhunderts ist nicht so schwarz-weiß strukturiert wie zu Lebzeiten Zimmermanns. HEIDISWELT@snafu.de lautet die Anschrift des Weißen Ring in Kreuzberg. Das ist weder die heile, noch die grausam schlechte Welt aus den Infobroschüren des Weißen Ring. Das ist die Welt, wie sie ist. <br> |