Dez. 2004/Jan. 2005 - Ausgabe 63
Die Literatur
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm von Gabriele Tergit |
Margot fror. Denn die Garderobe war ein Korridor, und von der Straße pfiff es eisig. »Frühling nennt sich das«, sagte Meyer. Geduldig wartete das Publikum, bis Meyer mit: »Nu aber mal endlich hierher, junge Frau« Bewegung in die Sache brachte. »Sie haben ganz recht.« »Immer da drüben und wir gar nicht.« »Zustände herrschen hier, Zustände.« »Na, Fräulein, vergessen Sie aber nicht den linken Flügel, links sitzt’s Herz.« »Man kriegt ja steife Arme.« Um 1/2 10 Uhr betraten Margot und Oskar den Saal. Auf der Bühne waren Akrobatentänzer. Das Mädchen war Schlangenleib, spreizte so die Beine, daß an ganz unwahrscheinlichen Stellen plötzlich Füße auftauchten, plötzlich bog sie sich nach hinten über, daß der Kopf auf der Erde mit den Füßen zusammenstieß, ein Hufeisen bildete. Die Brüste saßen unbeweglich. Meyer war entzückt. Meyer war entzückt: »In so was könnte ich mich heute noch verlieben.« Margot war gekränkt. Warum sagte er so was zu ihr. Aber Berlin hat kein Klima für die Liebe. So was sagt man nicht, wenn eine schöne Frau neben einem sitzt, dachte Margot, taktlos ist es. Überhaupt dieses Berlin, kein Flair, keine Grazie, keinen Charme. Und dann kamen die Radler. Am Nebentisch entdeckte Meyer einen Bekannten. Er kam an den Tisch. »Darf ich Herrn Gödovecz vorstellen?« »Sind Sie beruflich hier?« fragte Gödovecz. »Das weiß ich erst um 12 Uhr. Und Sie?« »Ich, ja. Denken Sie, ich habe am Sonntag eine ganze Seite in der Breslauer Illustrierten nur Käsebier gehabt. Käsebier singt ein Chanson, in sieben Phasen. In Berlin habe ich schon in den vorigen Wochen eine Unmenge Käsebier in den Zeitungen gehabt.« »Geht also das Geschäft gut?« »Ja, ich bin gar nicht so begabt, wissen Sie, wie die andern unbegabt sind. Darauf kommt es überhaupt an. Es gibt fast nur Dumme.« »Kellner, noch ein Helles. Willst Du noch was, Margot?« »Einen Cobbler.« »Cobbler in der Hasenheide! Ach Mädchen, mit Dir kann man nicht in die Hasenheide gehen, ein Helles, Würstchen oder Kaffee bestellt man hier.« »Also dann einen Kaffee.« »Du scheinst hier nicht glücklich zu sein.« »Nein, ich finde es schrecklich. Sehen Sie sich bitte das Publikum an.« »Na ja, natürlich. Die Berlinerin versteht’s nicht, sich anzuziehen«, sagte Gödovecz. »Jetzt brauchen Sie nur noch zu sagen, und kochen können sie auch nicht in Berlin. Dann haben wir’s richtige Gespräch. Dabei ist die Berlinerin heute die schickste Frau der Welt, und das Essen in Budapest kann kein Mensch vertragen. Paprika plus Pfeffer, nein Danke.« »Also, Sie können sagen, was Sie wollen, aber die allgemeine Meinung …« Und jetzt begann Clown Tuby Tub, der herrliche Clown mit der Zigarrenkiste. Drüben entdeckte Meyer Krienke, Photopreß. »Wissen Sie, daß Richard Thum unten sitzt?« sagte Krienke. Entnommen aus Gabriele Tergit, »Käsebier erobert den Kurfürstendamm«, 2004, Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft, Preis: 14,90 Euro <br> |