Kreuzberger Chronik
April 2004 - Ausgabe 56

Die Reportage

Out of Kreuzberg


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von Peter Bittner

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»Das war damals, vor fünfzehn Jahren, noch so ein kleines Dorf an der türkischen Mittelmeerküste, Patara, da fuhr nicht einmal ein Bus hin, verstehste?« Die Szene spielt in einer Kreuzberger Kneipe, nachts um halb drei. Man schwärmt von der guten alten Zeit. »Vorne am Strand lagen ein paar Türken in der Sonne, und dann kam acht Kilometer lang nur Sandstrand. Acht Kilometer! Da war niemand, nur Schildkröten, die ihre Eier da ablegten. Weil sie da ihre Ruhe hatten. Und was steht am andern Ende von diesem Strand? Ein oller VW-Bus mit ein paar Langhaarigen und Berliner Kennzeichen. Aus ’m Chamissokiez!«

»Wir standen an der Straße, in Marokko, und wollten in die Spanische Sahara. Aber da kam nur alle zwei Tage mal ein Auto vorbei. Und dann kommt da ein Jeep mit einer blonden Frau mit Sonnenbrille. Mitten in der Wüste…« – Alle nicken. Jeder hat so eine Geschichte zu erzählen, von einem Kreuzberger, oder zumindest einem Berliner, den er irgendwo am Ende der Welt traf. Auch die Frankfurter oder Hamburger, sogar die Ingelheimer und die Dieburger erzählen sich diese Geschichten mit einer merkwürdigen Mischung aus lokalpatriotischer und kosmopolitischer Weltanschauung. Doch kaum einer reiste so viel wie der Berliner. Der Drang, einmal wieder rauszukommen, war nirgends so groß wie unter den Menschen in der eingeschlossenen Stadt.

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Foto: Peter Fichna
Die gesteigerte Reiselust der Berliner blieb von den Passagierscheinverkäufern nicht unbeachtet. Auffällig groß ist die Dichte an Reisebüros im Westen der Stadt, unter anderem auch in Kreuzberg. Und während viele Geschäfte im Szeneviertel erst um zehn die Türen öffnen, gehören die Reiseverkäufer zu den Frühaufstehern und öffnen gleich nach der Apotheke und noch vor den Lebensmittelläden. Das Bezirksbranchenbuch der »Kreuzberger Seiten« aus dem Jahr 1998 verzeichnete über 40 Reisebüros mit so illustren Namen wie Biblische Reisen, Bayern Express, Grenzenlos Reisen oder Reisen mit Herz. Viele der kleinen Büros mit ihren speziellen Angeboten haben den 11. September 2001 und die Einführung des Euro trotz guter Konzepte nicht überlebt. Bei Fly out, deren großformatige Anzeigen jeder Zitty-Leser noch lebhaft vor Augen hat, fliegt heute niemand mehr, und alternative Reisen kann man bei Alternativ Reisen in der Zossener Straße auch nicht mehr buchen.

Weniger geworden sind die Flug- und Busreisen, die Hotel- und Landhausvermittlungen in den letzten Jahren deshalb nicht. Zwar ist der Umsatz der Büros zurückgegangen, doch sind die Existenzgründer auch in der Tourismusbranche emsig auf der Suche. Allein in Kreuzberg 61 sind in den vergangenen Jahren mehrere kleine Büros mit sehr speziellen Angeboten an den Start gegangen. Sie sind typisch für den Standort mit seinen ausgefallenen Ideen, aber sie richten sich nicht allein an eine alternative Klientel aus der Nachbarschaft: Frankreich à la Carte, das vor einem Jahr in der Hagelberger Straße eröffnete, ist eines von nur zwei Büros in der Hauptstadt, die den besserverdienenden Berlinern die Freuden französischer Lebensart vermitteln. »Es sind natürrlich«, sagt Frau Bernard mit ihrem eindeutigen Akzent, »nicht die Arrbeitslosen, die zu mir kommen«, sondern eher schon die in Kreuzberg existierende Klientel der Gewerbetreibenden und Künstler. Bits Reisen in der Friesenstraße wiederum hat sich auf England und Irland spezialisiert. Und auch, wenn man merkt, daß »es den Kreuzbergern in letzter Zeit ein bißchen an Geld fehlt«, kann sich der einzige Berliner Reiseveranstalter für England und Irland im Viertel halten. Nordlicht Tour in der Gneisenaustraße bricht nicht nur in die letzten Zipfel Skandinaviens auf, sondern läßt seine Kanus bereits seit einigen Jahren auch auf der Mecklenburger Seenplatte schwimmen. Und seit 8 Jahren halten Rolls-Reisen, ebenfalls in der Friesenstraße, mit weltweiten Reisen und Unterkünften für Rollstuhlfahrer ein in Berlin einzigartiges Angebot bereit.

Eine spezielle Kreuzberger Klientel sind die einmal im Jahr in die Heimat reisenden Türkinnen und Türken, doch der Verkauf der Flugtickets nach Istanbul oder Ankara scheint auf den ersten Blick fest in türkischer Hand. So wie Hertie und das KaDeWe ihre Reiseabteilungen haben, so bieten auch die türkischen Kaufhäuser am Kotti neben Fisch und Tomaten Flüge in die Heimat an. Dagegen ist der Anteil türkischer Reisebüros, die ebenso schnell eröffnen, wie sie wieder schließen, verhältnismäßig gering. Vor wenigen Jahren noch waren es lediglich drei Büros in SO36, die sich um ihre Landsleute und deren obligate Familienbesuche kümmerten. Vielleicht, weil die dreitägige Reise mit dem eigenen, vollbepackten PKW damals ebenso zur Tradition bei den Heimkehrern wie zum Bild auf Deutschlands Autobahnen gehörte. Doch die Einwanderer der ersten und zweiten Generation sind älter und bequemer geworden. »Inzwischen«, erzählt Lienhard Schulz, »kommen die Türken auch zu uns. Und sie buchen nicht nur Flüge nach Istanbul oder Dalaman. Sie buchen Urlaubsreisen nach Spanien!«

Lienhard Schulz ist in den Achtzigern mit seinen Passat Reisen in die Gneisenaustraße gezogen. Inzwischen hat der eigentliche Soziologe vier Standorte in der Stadt. Während er im Wedding und in Moabit Pauschalurlaube der üblichen Reiseveranstalter »von der Stange« verkauft, bedient er in Schöneberg und Kreuzberg eine andere Klientel. Wobei die Kreuzberger ein kleines bißchen sympathischer sind als die Schöneberger. »In Schöneberg«, bemerkt einer der Angestellten, »kommen sie mit ihrem Lonely Planet unterm Arm herein und wissen gleich alles besser. Das muß ich nicht jeden Tag haben!«

Die Kreuzberger dagegen kommen und sagen: »Ich möchte mal eben ganz billig auf die Kanaren«, haben dabei aber ziemlich teure Vorstellungen.
Auffällig sind auch die langen Winterreisen der Kreuzberger nach Asien, selten unter zwei Monaten. Das kommt im Wedding und in Schöneberg, wo die arbeitenden Mittelkläßler wohnen, eher selten vor. Doch auch die wilden Kreuzberger sind älter geworden. Immer wieder passiert es, daß ein alter Stammkunde, der prinzipiell nie mehr als den Flug buchte, und womöglich one way, sich plötzlich für eine Pauschalreise interessiert, und dies etwas schüchtern damit entschuldigt, daß er ja jetzt Familie habe.

Von den 3,4 Mio. Deutschen, die im vergangenen Jahr nach Mallorca geflogen sind, kommen jedenfalls die wenigsten aus Kreuzberg. Die Hauptstadt liegt mit nur 284.000 Mallorca-Reisenden an viertletzter Stelle der Statistik, Nordrhein-Westfalen mit 1,2 Millionen an der Spitze. Die beliebtesten Reiseziele der Kreuzberger sind offensichtlich Gomera, La Palma und Madeira – »Teneriffa spielt keine Rolle!« Aber die kretische Südküste. »Auch die Weddinger und Moabiter fliegen nach Kreta, aber alle an die Nordküste! Hier hat sich herumgesprochen, daß der Süden von Kreta schöner ist.« Folglich hat sich Passat Reisen ein bißchen auf den Süden Kretas und die Kanaren spezialisiert.

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Da kennt sich der Firmengründer ohnehin gut aus. Als Lienhard Schulz nach seinem Soziologiestudium in den Seniorengesprächskreisen der Kreuzberger Volkshochschule von seinem Wanderurlaub auf Teneriffa erzählte – »8 Wochen zu Fuß über die Insel!« – da wurden die Senioren hellhörig. Viele kannten zwar die Urlaubsinsel, aber was Schulz erzählte, war ihnen neu. Also organisierte er seine erste Studienwanderreise für die Senioren der Volkshochschule. Später folgte sein erstes Büro in der Yorckstraße, Ecke Großbeerenstraße, und jetzt ist er mit Passat Reisen eines von fünf Reisebüros in der Gneisenaustraße: Neckien, Kudus Reisen, Nordlicht und das Titanic am Südstern.

Die Geschäfte gehen, aber sie gingen schon einmal besser. Lienhard Schulz schätzt die Einbußen in den vergangenen drei Jahren auf ca. 20%, und Licht am Horizont sieht er trotz billiger Flugangebote nicht. »Der Aufschwung, der da immer heraufbeschworen wird, den sehe ich nicht! Ich glaub da nicht mehr dran«, sagt Lienhard Schulz. Ohnehin bucht nur jeder Dritte der 12.000, die jährlich mal kurz ins Reisebüro schauen. Die meisten holen sich Informationen. Die Tage, als man noch vom Verkauf von Flügen oder Bahntickets leben konnte, sind vorüber. Flüge werden jetzt über den Computer gebucht. »Die einzige Perspektive, die wir sehen, ist die Reiseberatung.« Das Vermitteln kleiner Pensionen und Fincas abseits der Touristenzentren und die Zusammenstellung günstiger Reisemöglichkeiten dorthin.

Außerdem hat Passat Reisen sich etwas einfallen lassen, das bisher einzigartig ist in Deutschland, und das auch gut zu funktionieren scheint. »Wir haben zwei Mitarbeiter, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als das Internet nach den neuesten Angeboten zu durchforsten, die sich ja stündlich verändern.« Die Ergebnisse der aufwendigen Recherche, das heißt, die günstigsten und interessantesten Angebote aus dem Datendschungel, werden täglich in den vier Filialen des Reisebüros veröffentlicht. Das ist ein kostenloser Service, der sich dennoch rentiert. Denn die meisten dieser ausgesuchten Sonderangebote gibt es nicht sehr lange, wer lange zögert, kommt zu spät. Also bucht man am besten sofort, oder spätestens am nächsten Tag. Und an Ort und Stelle.

Lienhard Schulz denkt darüber nach, dieses System deutschlandweit einzuführen. Und ist halbwegs optimistisch. Obwohl immer mehr Menschen sich ihre Reisen auf den hauseigenen Bildschirmen zusammensuchen. Irgendwann wird es sich ja herumgesprochen haben, daß die eigene Suche am Computer zu viel Zeit kostet, und daß niemand so schnell etwas findet wie die Spezialisten der Reisebüros. Ebenso, wie es sich eines Tages in ganz Kreuzberg herumsprach, daß es auf Gomera eben am schönsten ist. <br>

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