April 2004 - Ausgabe 56
Kreuzberger Legenden
Kreuzberger Legenden (3): Steine, Sterne, Krampen von Dr. Seltsam |
Wir befinden uns auf der Suche nach den Elementen, die den »Mythos Kreuzberg« weltberühmt machten. Von außen gesehen sind das eine Menge Outfit-Accessoires, die mittlerweile von ganz konventionellen Modeschöpfern bis in Tokios Vororte und den amerikanischen »bible belt« verbreitet wurden: der Hosenriß in den Jeans über dem Knie und an der Pobacke. Die hohen Schuhe der britischen Schutzkleidungsfirma Doc Martens, uralt aussehend, mehrfach bemalt und ohne passende Schnürsenkel. Ein dunkelgraues T-Shirt mit selbstentworfenen Aufdrucken wie »Staatsfeind«, »Schieß doch, Bulle«, »Alles Fotzen außer Mutti«, »Polizei«, »taz lügt«, »Nazis in den Müll«, »Soldatinnen sind Mörderinnen« bewiesen den entgegenkommenden Passanten und respektiven neuen Sexualpartnern den hohen pc-Standard (political correct) der Träger. Es mußte jedoch selbst bedruckt sein, sonst war es phantasieloses Spießertum. Die Haare waren nicht mehr lang und lockig oder rastamäßig verdreht wie zur Späthippiezeit, sondern so kurz und bunt wie möglich, die Glatze aber war »nazi wear«. Die Sonnenbrille war teuer und schick, mußte in London selbst geklaut sein und wurde besonders nachts in schummrigen Bars getragen, wo man eh nichts sah. Ein besonderes Kapitel war die speckige Lederjacke, die bei den echten Kiezfürsten nur von der Firma Hein Gericke aus Hamburg stammen durfte. Es ist eines der großen Rätsel Kreuzbergs, wie dieser millionenschwere Geld-Transfer vom Armenviertel Berlins nach Blankenese finanziert wurde, denn Jacken zu klauen war tabu. Die Firma soll sich durch diese Streetfighter-Mode vor der Pleite gerettet haben, genauso wie die Berliner Glaser-Innung. Als Kopfbedeckung war das Kapuzen-Shirt angesagt. Oder das, aus anti-imperialistischer Solidarität, und weil es zu hellblond gefärbten Haaren einfach verteufelt gut aussah, große Araber-Tuch in schwarzweiß und rotweiß, das Kurden und Libanesen vom Heimaturlaub mitbrachten, bevor man es bei Otto und Quelle bestellen konnte. Heute ist die autonome Szene atomisiert, und es haben sich einige USA-begeisterte Irre zu den sogenannten »Antideutschen« zusammengetan, die bei einer Politsause im SO36 eine von Antisemiten abgeguckte »Palifeudel-Kontrolle« durchführten. Was aber die Wohnung eines echten Kreuzbergers von allen anderen auf der Welt unterschied, waren wahrhaft innere Werte: Die vierzig blauen Lederbände der Marx-Engels-Gesamtausgabe auf dem obersten Bücherregal unerreichbar verstaubend, mindestens ein Meter »Kursbuch« und zerlesene Comics von »Grober Unfug«. Eine Sammlung selbst geernteter Mercedes-Sterne, weil »solche Bonzenkisten haben in unserem armen Kreuzberg nichts verloren!«, der wertvollste ersetzt an der Klokette den Porzellangriff. Die Dienstmütze eines hochrangigen Polizisten aus der Zeit, als die Polizei noch nicht kriegsmäßig verpuppt zum 1. Mai kam, Bruchstücke eines »Hella«-Polizei-Blaulichts, Schlagstöcke, Handschellen … – was eben beim Gegner so verloren ging. Ein Häufchen Kleinpflastersteine mit den blutigroten Daten ihres Einsatzes »1.5.87« als Briefbeschwerer. Ein »Krähenfuß« auf dem Schreibtisch als Zettel-Halter, das sind rechtwinklig zusammengeschweißte und angespitzte Baustahl-Winkel, die bei Straßenschlachten in dichten Schichten auf der Oranienstraße lagen, um den heranbrausenden Polizei-»Wannen« die Luft aus den Reifen zu lassen. Sie wurden mit unerbittlichem Fleiß in WG-Heimarbeit hergestellt und bedeuteten ein echtes »Volkskampfmittel«. Heute alles nur noch Souvenirs. |