April 2004 - Ausgabe 56
Essen, Trinken, Rauchen
Der Freischwimmer von Joachim Jung |
Es ist ein kalter Aprilabend, über die Brücke »Vor dem Schlesischen Tor« weht kühler Wind jegliche Behaglichkeit aus den Gliedern. Zwei Bezirksflaneure sehen hinunter aufs Wasser, auf den Seitenarm der Spree, der hier die Lohmühleninsel umfließt. Illuminiert liegt am Ufer ein Lokal, ein ehemaliges Bootshaus. Einen Grog müßte man trinken gegen die Ungemütlichkeit, vielleicht kriegt man ihn ja da unten. Kein Schild auf der Straße weist auf das Wirtshaus hin, kein Pfeil zeigt den Weg. Man muß den Zugang kennen, durch das eiserne Gatter rechts neben der Aral-Tankstelle, die Uferböschung treppab. Den Grog brauchen sie dann nicht. Drinnen ist es warm, die Brillengläser beschlagen, ein Feuer knistert im Kamin, aromatische Luft erfüllt das Holzhaus am Wasser. Ein Spreefischer habe früher hier sein Domizil gehabt, Bootshaus, Räucherkammer, Wohnstube. Der Flutgraben wurde auch als Schwimmbad genutzt, ein Stück weiter die beplankte Balustrade am Ufer entlang ragt eine Holzplattform ins Wasser. Vielleicht fünfzehn Meter breit ist der Graben an dieser Stelle, die andere Seite gehört bereits zum Bezirk Treptow, das Gewässer markiert die Bezirks- und früher auch die Grenze zwischen Ost und West. Nicht weit von der Brücke steht ein Kontrollturm, Relikt der alten Grenzbefestigung, nicht Abschreckung genug für einige, zu Mauerzeiten schwimmenderweise die Flucht in den Westen zu wagen. Ein Freischwimmerort, nicht nur Badestelle. Die Gaststättenbetreiber haben die Bedeutung aufgegriffen, Der Freischwimmer nennt sich das Lokal mit dem Hausbootflair. Auch als Filmkulisse hatte der Flutgraben mit den Bootshäusern schon Bedeutung, in der Gaunerkomödie Schwarzfahrer mit dem Berliner Schauspieler Rolf Zacher. Irgendwas zwischen Fischerhütte und Strandtaverne assoziiert der Begleiter des Bezirkskenners nicht ohne Präsentationsstolz, er hat ihn hergeführt. Der mit Prädikaten grundsätzlich zurückhaltende Freund will wohl noch das Ergebnis der Gastronomieprüfung abwarten, bevor er sich zu einem Urteil durchringt. Die Salzdosierung sei ihm ein wichtiges Kriterium, hatte der Undercovergourmet gelegentlich geäußert. An diesem Abend salzt er sein Hirschgulasch nicht zusätzlich, bemerkt nur nach vollzogenem Gesamtverzehr, daß man wohl öfter kommen könne, worauf der Begleiter, der noch in dem erntefrischen Salatberg vor ihm herumgabelt, zustimmend nickt. Im Kamin explodiert ein Scheit, man fühlt sich aufgehoben in einem Kontinuum der Behaglichkeit zwischen Rotwein und Calvados. Inspiration besteht in der Erwartung, daß sie sich einstellt, weissagte einst ein Schriftsteller. Der genius loci könnte dazu verführen, solcherlei Erwartung zu fördern, die Geschichten zu fabulieren, die zu Mauerflüchtlingen, Spreefischern oder langen Kreuzberger Nächten gehören. Bevor es dazu kommt, leert der Natriumchloridempfindsame sein letztes Glas Calvados, und die beiden schicken sich an, zu gehen. Den Absinth auf der Getränkekarte, das Getränk van Goghs und anderer Malergrößen, heben sie sich auf für den nächsten Besuch. Auf der Brücke sind sie wieder in der rauhen Aprilnacht und versucht, umzukehren. In weniger fortgeschrittenem Alter wäre eine Kreuzberger Nacht an diesem Ort möglicherweise tatsächlich lang geworden. <br> |