Kreuzberger Chronik
September 2003 - Ausgabe 50

Die Geschichte

Nach dem Mauerfall: Exoten im Exil


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von Thomas Heubner

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Ich bin ganz aufgeregt. Denn heute Abend besucht uns Herr D., mein guter alter Bekannter. Zur Wiedersehensparty will er sogar noch ein paar Freunde sowie seine neue Lebensabschnittspartnerin mitbringen. Schließlich sollen die auch mal leibhaftig erfahren, welche Entbehrungen unsereiner erdulden muß und sich dabei selbst treu bleiben kann. Das war und ist nämlich gar nicht so einfach.

Herrn D. kenne ich seit dem Mauerfall. In jener Nacht war auch ich in meine Stoned-washed-Uniform gestiegen und habe mit Tausenden anderen auf der Oberbaumbrücke in den amerikanischen Sektor von Berlin rübergemacht. Herr D. stand damals Spalier und klatschte jubelnd Beifall. Ich wunderte mich seinerzeit sehr, denn wir kannten uns doch gar nicht. Wahnsinn! Als ich ihn daraufhin ansprach, schleppte er mich umstandslos in die Wrangelstraße, wo er mir in der Weltlaterne ein ganzes Schultheiss spendierte. Ein paar Tage später lud ich ihn zum Gegenbesuch in die Glühlampe auf Friedrichshainer Seite ein.

Herr D. war es auch, der mir nicht nur den Weg zur Bank am Kotti zeigte, wo ich mir mein Begrüßungsgeld abholen durfte, sondern ohne ihn hätte ich auch stundenlang vorm Parkhaus am Hermannplatz gestanden und darauf gewartet, daß der Pförtner die Schranke hochleiert. Er zeigte mir, daß man After Shave auch für’s Gesicht benutzen kann und daß sich Deo-Roller und Vibrator nur äußerlich ähneln. Daß man die Batterien für letztere auch außerhalb von Sexshops kaufen kann, fand meine Frau dann alleine raus. Ohne Herrn D. würde ich heute noch glauben, Lasagne sei ein Abführmittel und Sushi ein koreanischer Motorroller. Jedenfalls hat er damals Schlimmes mit mir durchgemacht, das schmiedet zusammen. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Der Höhepunkt war ein Kurzzeitbesuch von ihm bei mir in Hohenschönhausen, dort, wo hinter den Rieselfeldern die sibirische Tundra beginnt. Im Neubaublock mit den Arbeiterschließfächern erschütterten ihn besonders die abgestellten Straßenschuhe vor den Wohnungstüren. Kurzerhand entschied er »Du mußt hier raus aus diesem piefigen Kleinbürgermilieu!« und vermittelte mir eine schöne Altbauwohnung. Nicht im aseptischen, porentief reinen Zehlendorf, sondern dort, wo der 1. Mai noch traditionell revolutionär gefeiert wird. »Damit du dich nicht so arg umstellen mußt«, raunte er mir dabei verschwörerisch zu. Vielleicht hoffte er, ich wäre eine Verstärkung für die dortigen Aktivisten, sah er in mir doch eine Art Berufsrevolutionär, nur weil ich eine Zeitlang im Kleingartenverein Wandzeitungsredakteur war. Ich wiederum wußte damals nicht, daß er für sein Maklergeschäft eine Provision vom Vermieter kassierte.Seit über zehn Jahren lebe ich nun im Kreuzberger Exil. Das geht anderen aber auch so. Denn viele Nachbarn sind ebenfalls zugewandert, die meisten freilich aus Quakenbrück oder Böblingen. Das schult.

Kaisers und die DDR
Foto: Wolfgang Wigands
Ich gehe seitdem nicht mehr zum Fleischer, sondern zum Metzger, und das nicht in der Woche, sondern unter der Woche. Und die leckere Brotzeit gibt es nicht erst Viertel vier, sondern schon Viertel nach drei – guts Nächtle, gell? Der elegante süddeutsche Gebrauch der Präpositionen kann einem Gelegenheitsschreiber wir mir jedenfalls nicht schaden, wenn man endlich im neuen Deutschland ankommen will. Wie man eben als gelernter Ossi auch lange braucht, um die Unterschiede zwischen T-Punkt und G-Punkt, Diät und Diäten oder Suizid und Selbstmord zu begreifen.

Will man im Exil nicht negativ auffallen, muß man sich zur Tarnung den vielen Schwaben und Niedersachsen anpassen. Früher habe ich manchmal ein gutes Buch gelesen, Wolf Biermann, Lutz Rathenow, Freya Klier, Rosamunde Pilcher und so. Heute lese ich viel lieber Gedichte von Durs Grünbein oder Traktate von Habermas oder Sloterdijk. Nur selten blättere ich noch in Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« oder Scholochows »Neuland unterm Pflug«, kann dafür aber über Zlatko und Daniel Kübeldings mitreden und finde Jenny Elvers blondes Oberlippenbärtchen ebenfalls ganz reizend. Und das ist gut so.

Vor allem die zahllosen Männergesprächskreise im Bamberger Krug waren äußerst hilfreich. Da wuchs zusammen, was zusammengehört. Ich lernte in diesen Selbsterfahrungskursen, mich selbst zu akzeptieren, und daß die Ursachen meiner latenten Gewaltbereitschaft und Untertänigkeit im kollektiven Töpfchensitzen während meiner Kindergartenzeit zu suchen sind. Die Harmlosigkeit der neuen Freunde war wirklich entwaffnend, vorbildlich ihre gesunde Neigung, die eigenen Absichten zu verdunkeln. Sie äußerten Befindlichkeiten, sagten aber nie, wie’s ihnen geht, außer »supi«.

Klar, ich war nicht nur Nehmender, sondern auch Gebender. So waren die Freunde sehr dankbar über meine Aufklärung, daß die Kalaschnikow nie im VEB Fahrzeug- und Jagdwaffen-Kombinat Suhl produziert wurde. Und meinen schlitzohrigen Tip fürs Wählervolk »Erst ankreuzen, dann denken!« müssen auch ein paar beherzigt haben, sonst hätte die vermeintliche Protestpartei bei den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus ihren Stimmenanteil bei uns im Kiez kaum verdoppeln können.
Nur – langsam geht mir das zu weit. Das tapfere Kreuzberger Protestpotential verstummte bei der Zwangsvereinigung mit dem Ostbezirk, und keiner fand es echt kraß, als die Bezirksbürgermeisterin mit dem rosaroten Parteibuch in der Tasche von uns Bürgern forderte, mehr Ehrenämter auszuüben. »Gesellschaftliche Arbeit« nannten wir Zonis das damals – Fahnenappell, Wohnbezirksausschuß, Stasi-IM usw. Fast unbemerkt prangen immer mehr grüne Pfeile an den Ampelkreuzungen, unser Bäcker offeriert »frische Ostschrippen« statt wattiger Bauernlaibl. Anstelle ordentlicher Kneipen öffnet immer mehr Konzept- und Erlebnisgastronomie, die fatal an die »Erlebniszonen sozialistischer Lebensfreude« mit Gästebuch und »Sie werden plaziert!« erinnert. Zwischen Bergmannstraße und Mehringdamm gibt es schon Geschäfte, die nennen sich LPG und Intershop. Und tatsächlich agiert bei uns im Haus bereits eine Hausgemeinschaft, fehlen nur noch das Hausbuch und der Kampf um die Goldene Hausnummer im sozialistischen Wettbewerb »Schöner unsere Städte und Gemeinden, mach mit!«

Kreuzberg wird ostig, die Vergangenheit holt mich ein. Als die Mauer noch stand, bin ich nicht über die Selbstschußanlagen geklettert, sondern der Westen kam einfach zu mir. Wiederholt sich jetzt die Geschichte, nur in umgekehrter Richtung? Wozu bin ich eigentlich aus meiner gefliesten Hohenschönhausener Naßzelle geflüchtet?

Vorsichtshalber habe ich in den letzten Monaten keinem geschadet, wenn’s eines Tages mal wieder anders kommen sollte. Auch um Herrn D. und seine Freunde nachher nicht zu enttäuschen, spiele ich noch ein bißchen mit. Ich freue mich über die neue Herausforderung.

Ich ziehe mir das verblichene FDJ-Blauhemd an, darüber den Blouson vom VEB-Stepke-Herrenmoden und entkorke schon mal den Rotkäppchen-Sekt. Meine Frau schlüpft derweil in ihre fadenscheinige Dederon-Kittelschürze und serviert Spreewaldgurken, Halberstädter Würstchen mit dem extra scharfen Senf aus Bautzen. Den Loewe-Fernseher muß ich noch gegen den alten »Junost« austauschen, ebenso die AKAI-Anlage gegen den RFT-Kasten B 3010 HiFi. Dann legen wir den Oktoberklub oder die Puhdys auf und gucken im MDR den Defa-Musikfilm »Heißer Sommer«. Gegen Mitternacht zünden wir vielleicht auch ein paar Kerzen an, stellen uns wie im Herbst ’89 mutig hinter die Gardinen und schauen mal, was dann passiert. <br>

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