September 2003 - Ausgabe 50
Die Freizeit
Das Kreuzbergrätsel von Michael Unfried |
Zugegeben: Ein typisches Kreuzberger Freizeitvergnügen wie das Boulespiel (Kreuzberger Chronik Nr. 47), das Stricken (Nr. 43) oder das Autowaschen (Nr. 41) ist es nicht. Es scheint sogar eine eher untypische Beschäftigung für den Bewohner eines alternativen, intellektuellen und von Fremdsprachlern durchsetzten und unterminierten Stadtbezirks. Schließlich ist dieser Denksport geradezu ein Symbol für die bürgerliche Leere im Kopf, für gähnende Langeweile, für die Einsamkeit der Hausfrauen und Rentner, eine Art Opium fürs Volk und darüber hinaus ein deutsch-nationales Phänomen. In kaum einem anderen Land wird diesem Hobby derart gefrönt wie in unserem, nirgendwo verschwendet man so viel Zeit für das sinnlose Totschlagen der Freizeit, nirgendwo so viel Papier, und nirgendwo wird aus der Ideenlosigkeit so viel Kapital geschlagen. Es müssen Milliarden sein, die das Spielchen mit den Buchstaben ihren Herausgebern einspielt. Dennoch beschäftigt man sich auch im politisch korrektesten Stadtteil geradezu schamlos mit dem Zusammenfügen von Lettern zu sinnlosen Worten, schreibt stolz »Ara« oder »Iowa« oder »Infant« und kommt sich vor wie Ernest Hemingway. Man sitzt mit der Freundin auf dem Balkon, liegt mit der Freizeitrevue im Schwimmbad, beugt sich im Gasthaus über die BZ und vergißt beim Zahnarzt vor lauter Rätselraten den Schmerz. Ganz ins Spiel vertieft, in Trance verfallen, mit glasigen Augen auf dem Stift herumkauend, präsentiert sich beim Rätsellösen auch der Kreuzberger als ein simpler Nachfahre des Affen, gerade vom Baum herabgestiegen. Es ist eine Schande! Denn während die Kreuzberger einst an ihrem Kiosk ausschließlich den Spiegel, die 883, die taz und ähnliche Produkte aus der linken Ecke lasen, Lektüren für den gebildeten Mittelstand ohne die seitenfüllenden Kästchenspiele, Lektüren also, über die man abends diskutierte und disputierte, kaufen sie heute das Rätselparadies, die Rätselwoche oder den Rätselkaiser, um sich in ihre bürgerlichen vier Wände zurückzuziehen und mit dem schmerzenden Rücken aufs Sofa zu fläzen. Es ist ein Kreuz mit den kreuzworträtselnden Kreuzbergern. Doch wer nun glaubt, es liege das alles nur am zunehmenden Alter des allmählich an Kreuzschmerzen leidenden Durchschnittskreuzbergers, der irrt. Selbst Kleinkinder, kaum der deutschen Sprache mächtig, wurden bereits dabei gesichtet, wie sie sich mit einem Stift in der Hand einem Kreuzworträtselheft näherten. Mitten in Kreuzberg. <br> |