Kreuzberger Chronik
Oktober 2003 - Ausgabe 51

Das Thema des Monats

Anders Altern


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von Günter Markquark

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Die Zeiten, als es für Opa und Oma noch einen Platz am Ofen in der Großfamilie gab, als sie Enkelkindern Bücher vorlasen, beim Kartoffelschälen halfen oder ein Fahrrad flickten, sind vorüber. Die Alten dieser Gesellschaft gehen ihren eigenen Weg, nicht selten endet er in einem Heim. Es dauerte Jahre, bis die »Ausgedienten« auf ihre Situation in diesen Häusern aufmerksam machen konnten, bis Einsamkeit und Siechtum der Alleingelassenen sich ins Bewußtsein der Öffentlichkeit vorgearbeitet hatten.

Seitdem hat sich ihre Situation verbessert, verschiedenste Konzepte für verschiedenste Bedürfnisse sind entwickelt und realisiert worden. Heute leben bereits wieder 93 Prozent der über 63jährigen in eigenen Wohnungen, Versuchsmodelle wie die des »betreuten Wohnens« sind längst zum Alltag geworden. Das Freizeitangebot für Seniorinnen und Senioren besteht nicht mehr allein aus Kaffeetrinken, die medizinische Versorgung nicht mehr nur aus Beruhigungsspritzen gegen eine auch im Altersheim nicht enden wollende Vitalität. Wohl auch deshalb, weil die vermeintlich Jungen irgendwann begriffen, daß das Schicksal der Alten sie eines Tages selbst ereilen könnte.

Man erkannte, daß die alten Menschen nicht alle gleich waren, nur weil sie gleich alt waren, und versuchte, zu differenzieren. Allerdings unterschied man die Alten vor allem an ihren Gebrechen. Mal zeigten die Medien Menschen, die ans Bett gefesselt waren, mal kümmerte man sich um Altzheimerpatienten und Verwirrte, oder man thematisierte die Isolation und Einsamkeit jener, die allmählich von ihren Angehörigen vergessen wurden. Nach ihrer unterschiedlichen Herkunft und Geschichte fragte man wenig. Inzwischen bemüht man sich auch hier, ordnet nach grobem Raster.

Doch einige fallen noch immer durch, unter anderen die ins Alter kommenden Lesben und Schwulen. Nicht einmal in Berlin, dem deutschen Eldorado der Andersliebenden, der Stadt mit ihrem noch immer heftig umstrittenen Bürgermeister, der bunten Metropole, die am Christopher-Street-Day die Bilder einer heilen schwul-lesbischen Welt über verschiedenste Fernsehkanäle bis in die letzten Winkel der deutschen Provinzen ausstrahlt, sind die schwul-lesbischen Alten ein Thema. Wenn die Fernsehkameras einmal von den Jungen und Schönen hinüberschwenken zu einem alten Pärchen, dann nie ohne jenes verhohlene Schmunzeln, das auch die Papis und Mamis der fünfziger Jahre hervorbrachten, wenn ein schwules Pärchen sich verlegen bei den Händen nahm.

Gerade unter den männlichen Homosexuellen aber altert man schnell. In kaum einer anderen Szene verehrt man den jugendlichen Körper so wie in der schwulen, und nirgendwo sonst gerät man so rasch an den Rand der Gesellschaft. Der Mythos vom Mekka Berlin, der in den siebziger Jahren so viele Homosexuelle in die Stadt lockte, hat für die heute Sechzigjährigen manchmal bittere Konsequenzen. Denn jene, die vor dreißig Jahren aufgebrochen waren, um neue Lebenswege zu verwirklichen und Weichen zu stellen, vergaßen bei aller Aufbruchstimmung und Morgenröte den Lebensabend. Und Berlin steht unvermutet und unvorbereitet der ersten Generation alternder Homosexueller gegenüber.

Selbst der bieder gekleidete Klaus Böger, Senator für Bildung, Jugend und Sport, sah sich plötzlich mit »40.000 homosexuellen Berlinern, die älter als 65 Jahre sind«, konfrontiert, und mußte feststellen, daß sie häufig »vereinzelt und einsam sind, weil sie kaum familiäre Bindungen haben.« Die »anderen Alten« wurden zum ernstzunehmenden Thema, und im November 2002 fand in Berlin die erste Fachtagung zum Thema »Anders sein und älter werden – Lesben und Schwule im Alter« statt. Friedrichshain-Kreuzberg ist zwar verhältnismäßig »jung« geblieben, nur 46.000 Seniorinnen und Senioren leben im größten Bezirk der Stadt. Doch geht man davon aus, daß im Szenebezirk mindestens 5-10% von ihnen homosexuell sind. In anderen Bezirken übersteigt der Anteil der homosexuellen Alten manchmal kaum die Einprozentmarke.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn im ehemaligen Rathaus Kreuzberg in der Yorckstraße unter den vielen Wegweisern im Labyrinth der Bürokratie seit einiger Zeit auch ein Schild den Weg zu einem offiziellen Ansprechpartner für »gleichgeschlechtlich orientierte Seniorinnen und Senioren« weist. Im Zimmer 3045 sitzt Frau Ulli Haase. Vor zwei Jahren noch stand sie hinter dem Tresen einer Kneipe in der Fürbringerstraße. Nächtelang zapfte sie in ihrem »Rohbau« Bier und schenkte Wein ein, und sie sagte ihren Kunden, wenn es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Sie veranstaltete Konzerte, Ausstellungen, war »irgend etwas zwischen Sozialarbeiterin und Entertainerin«. Jetzt berät sie jene, die keine Lust mehr haben, allein in einem »Rohbau« halbe Nächte zu vertrinken. Sie sitzt am Infotelefon und gibt Auskunft über Veranstaltungen, Treffpunkte und Angebote für Lesben und Schwule jenseits der Sechzig, berichtet von der schwulen Wandergruppe oder dem schwulen Stammtisch, dem Frauencafé in der O-Straße Nr. 69 oder der Lesung der Autorin Traude Bührmann. Zu verdanken hat sie ihren neuen Arbeitsplatz der EU, die ihn finanziert, und Ruppert Pleyer, der sich als einziger im Seniorenamt seit Jahren intensiv mit der Problematik der in die Jahre kommenden lesbisch-schwulen Klientel befaßt hat. »Sexualität im Alter«, schreibt Pleyer gleich am Anfang eines Artikels, »ist noch immer ein Tabuthema, wie viel schwieriger ist es da erst, Homosexualität im Alter anzusprechen!«

Ulli Haase hat die Erfahrung gemacht, wie schwer es den alten Damen oder Herren oft noch fällt, das Wort »schwul« oder »lesbisch« auch nur auszusprechen. Die Zeiten, als die inzwischen in den offiziellen Sprachgebrauch integrierten Adjektive nur als Schimpfworte Verwendung fanden, sind noch nicht vergessen. Oft melden sich die heute Siebzigjährigen nur schüchtern und unsicher am Telefon, manchmal haben sie noch nie mit jemandem über ihr »Anderssein« gesprochen, außer mit den Freunden und den Freundinnen der intimen Kreise. Viele aus dieser »Generation der Verfolgten« haben ein Doppelleben führen müssen, und viele haben sich erst nach dem Ende der bürgerlich korrekten Ehe zu ihrer Sexualität bekannt.

Literarischer Salon
Teilnehmer des »Literarischen Salons« bei Richard Schultz, 1965. Foto: Kreuzberg Museum


Manche haben ihre Neigungen sogar erst im Altersheim entdeckt. Vielleicht ebenso überrascht von sich selbst wie jene Pflegekraft, die entsetzt zu ihrem Chef lief, als sie zwei alte Damen eines Morgens gemeinsam im Bett vorfand. Oder jene Pfleger, die unter den Matratzen achtzigjähriger Männer pornographische Schwulenmagazine entdeckten. Oder jene alte Frau, die sich mit Händen und Füßen wehrte, als man ihr ein Kleid anziehen wollte. Bis man darauf kam, daß sie in ihrem Leben immer Hosen getragen hatte. Darauf war man schlicht nicht vorbereitet, und darauf wird man sich nun einstellen müssen. Denn die Zahl jener, die keine Tabus mehr kennen, wird wachsen. »Spätestens in zehn Jahren wird man es in dieser Stadt mit selbstbewußt homosexuell lebenden Seniorinnen und Senioren zu tun haben, die verstärkt ihre Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen artikulieren werden«, schreibt Sophie Neuberg in einer 2002 angestellten Studie über »Ältere Lesben und Schwule in Berlin«.

»Es geht«, sagt Ulli Haase, »aber nicht darum, diese Alten nun alle in schwul-lesbische Altersheime zu stecken. Wir wollen der Ghettoisierung keinen Vorschub leisten. Lesben und Schwule sollen sich auch im Alter überall in dieser Stadt wohl fühlen können. Wünschenswert wäre dagegen eine Sensibilisierung des Pflegepersonals in den Heimen, oder ein breiter gefächertes Freizeitangebot, in dem Platz ist für alle, ebenso für Heterosexuelle wie für Homosexuelle. Wir müssen verstehen lernen, wie sich lesbische Frauen fühlen, wenn die Mitbewohnerinnen mit ihren Enkelkindern Hoppereiter spielen und ständig von ihren Söhnen und Töchtern erzählen, während die anderen keine Kinder haben.« Nur ein Zehntel der 70- bis 85-jährigen, so eine der jüngsten deutschlandweiten Studien, hat kein Kind innerhalb einer Reichweite von zwei Stunden. Unter diesen zehn Prozent werden nicht wenige Schwule und Lesben sein. Deshalb muß davon ausgegangen werden, daß aus den zehn Prozent bald zwanzig und mehr werden. Denn während die Generation der heute Siebzigjährigen noch oft eine eigene Familie hatte, haben die nachkommenden Generationen der Andersliebenden und -denkenden entweder nie eine besessen oder irgendwann alle Bindungen gekappt.

Doch obwohl sich der künftige Aufgabenbereich für die Seniorenämter der Stadt deutlich abzeichnet, stellte das Bezirksamt Wedding noch im Jahr 2000 nüchtern fest: »Eine Umfrage im Bereich des Betreuungspersonals und im Allgemeinen Sozialdienst ergab, daß in den letzten 30 Jahren kein Bedarf an speziellen Angeboten von der Zielgruppe (der Lesben und Schwulen) an die Abteilung herangetragen wurde«, und auch in Steglitz hieß es: »Besondere Bedürfnisse dieses Personenkreises sind dem Bezirksamt nicht bekannt.« Demgegenüber allerdings steht ein ganzes Heer 40.000 homosexueller Berliner Seniorinnen und Senioren, dem sich nun auch Herr Böger stellen mußte. Die Vorstellung, daß ausgerechnet diese 40.000 wunschlos glücklich seien und keine besonderen Bedürfnisse hätten, ist sogar für den bekennenden Heterosexuellen schwer nachvollziehbar, weshalb auch er das Fazit zog: »Die Altershilfe muß sich besser auf die Lebenssituation älterer Lesben und Schwuler einstellen«.

Immerhin hat Friedrichshain-Kreuzberg mit der Beratungsstelle für die anderen Alten einen Schritt in die andere Richtung gewagt. Und am Erkelenzdamm in Kreuzberg soll demnächst der erste Spatenstich für ein alternatives Wohnprojekt erfolgen. Das Schwule Museum in Kreuzberg, sonst gern mit plakativen Jünglingen werbend, eröffnet im Oktober eine Ausstellung zum Thema. Vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, an dem kein rüstiges Hetero-Rentnerpärchen am Südseestrand für die Klassenlotterie wirbt, sondern ein lesbisches oder schwules Duo. Vielleicht so eines wie das der beiden Fünfzigjährigen, die in der Studie von Sophie Neuberg auf die Frage, wo sie in 15 Jahren leben möchten, antworteten: »In New York! Das hast du dir mal gewünscht! …« – »Wie kommst du denn darauf? Schön wäre es, auf Gran Canaria zu leben und den Sommer in Berlin zu verbringen. Egmont würde seine Bücher machen und kochen …« – »Und wenn sie nicht gestorben sind, kochen sie heute noch …« – »Und beerdigt sein möchte ich in der Nähe meines geliebten Egmont, möglichst in Berlin.« – »Ich fände es schön, neben den Gebrüdern Grimm auf dem alten St.-Matthäus-Friedhof zu liegen. Aber im Grunde ist das egal!«



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