November 2003 - Ausgabe 52
Die Geschichte
Der Sozialistische Kinderladen von Jürgen Jacobi |
An einem Dienstag im Februar 1969 tauchen im Berliner Büro des »stern« plötzlich jene Geister auf, die die Illustrierte in ihrer 9. Ausgabe heraufbeschworen hatte: ca. 70 Personen besetzen handstreichartig die Räume in der Kurfürstenstraße. Mehr als die Hälfte der Besetzer sind im Vorschulalter, einige tragen noch Windeln. Unterlagen geraten in die Hände kindlicher Zensur, Kaffeetassen zerschellen, die noch jungen Pflänzchen der freien Presse gehen mitsamt Tontöpfen zu Bruch. Spontane Malerei mit Kreide und Farbspraydosen an den Wänden der Redaktionsräume geben expressiv Zeugnis von der freien Kreativität der Windelträger und Vorschulkinder. Und die sonst so sprachgewaltigen Redaktionsmitglieder greifen hilflos zu typisch bürgerlichen Mitteln der Gegenwehr: Sie reichen Kekse und Bonbons. Doch die subtilen Bestechungsmethoden nutzen nichts. Nach knapp 40 Minuten ist die Filiale der Meinungsbildung weitgehend verwüstet, der vom »stern« in einer folgenden Ausgabe als »Kinderkreuzzug« betitelte Spuk vorbei. Der Auslöser des nach heutigen Maßstäben eher bescheidenen Vandalismus war der »stern« selbst. In seinem Heft Nr. 9 hatte das Magazin im Kolportage-Stil über eine neue Form der Kindererziehung berichtet. Mit den für die Sensationspresse üblichen Tricks von Heuchelei, Vorwänden und sogar Bestechung war es gelungen, sich ins Vertrauen einiger Eltern der Kinderläden einzuschleichen. Informationen über die Startschwierigkeiten, etwa Heizung, Inventar und Tagesablauf, sachlich falsche Behauptungen über das Intimleben einiger Eltern und angebliche Beobachtungen von Verwahrlosung, Dreck und Anleitungen zum Ungehorsam genügten, um jeden braven Bürger das Gruseln zu lehren. Ein genauerer Blick in das pädagogische Konzept des »Sozialistischen Kinderladens Berlin Kreuzberg« hätte genügt, das einseitige Bild des »stern« zu korrigieren. In einem Grundsatzpapier wird festgehalten: »Wir müssen unsere Kinder zu disziplinierten kommunistischen Intellektuellen entfalten, die bereit sind, sich den Zielen der Arbeiter unterzuordnen.« Der ehemalige Kinderladen in der Fichtestraße 15 hatte im Herbst 1969 sein Domizil bewußt vom bürgerlichen Schöneberg in den Arbeiterbezirk Kreuzberg verlegt. Die Begründung für den versuchten Schulterschluß mit dem Proletariat liest sich wie folgt: » … Einige sozialistische Gruppen haben inzwischen erkannt, daß die Arbeit in Kinder- und Schülerläden (…) politisch erst relevant werden kann, wenn es gelingt, große Zahlen von Arbeiterkindern zu mobilisieren und zu organisieren.« In einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1969 antwortet ein Erzieher auf den Vorwurf der Indoktrinierung: »Wir haben in unserer Erziehung auch Werte, gewisse Vorstellungen, was richtig und was gut ist, wir haben einen Begriff davon, daß im heutigen Wirtschaftsprozeß eine Minderheit eine Mehrheit ausbeutet. Das versuchen wir natürlich unseren Kindern zu vermitteln.« Foto: Michael Hughes
Dennoch mußte der alternative Kinderladen in der Fichtestraße seinen gesellschaftspolitischen Ansatz bald selbstkritisch einschränken: »Beim augenblicklichen Stand der revolutionären Linken, wo es Massenorganisationen als Kampforgane des Volkes und die revolutionäre Avantgardeorganisation noch nicht gibt, sind wir indessen mit dem Versuch einer Klassenkampferziehung proletarischer Kinder vorerst gescheitert.« Abgesehen davon, daß das Politkauderwelsch der 68er den einfachen Arbeitern Spanisch vorkam, war der pädagogische Alltag wenig dazu angetan, die Elterngruppe aus Architekten, Soziologen und Ärzten um ein paar revolutionäre Proletarier zu erweitern. Während in den staatlichen und kirchlichen Einrichtungen die Gruppenstärke bis zu 40 Kinder betrug und laut einer Untersuchung 80% aller Anweisungen Ge- oder Verbote waren, sah der Alltag in der Fichtestraße ganz anders aus. In der maximal 8 Kinder großen Gruppe, deren Eltern die Finanzierung anfangs alleine trugen, durfte sich kindliche Neugier bis zur Zerstörung austoben, Autorität von Erwachsenen durfte aggressiv in Frage gestellt und kindliche Sexualität ausgelebt werden. In einem weiteren Dokumentarfilm des NDR im Dezember 1969 muß eine schockierte Kleinbürgerwelt miterleben, wie ein 3 1/2-jähriger in der Fichtestraße einem betreuenden Vater in spontaner Wut die Brille von der Nase schlägt. Der promovierte Brillenträger reagiert gelassen: »Jetzt kann ich gar nichts mehr sehen; jetzt seh’ ich dich wieder. Klasse.« Im selben Film fliegt das Besteck in den Suppentopf, Kinder fummeln an ihren und anderen Genitalien herum, selbst das Spielen mit dem Feuer wird erlaubt. Die prüde Bundesrepublik sah ihre ganze Nachkriegsbehaglichkeit in Flammen stehen. Es hagelte Proteste und wütende Beschimpfungen. Dennoch entstanden nach und nach hunderte senatsgeförderter Kinder- und Schülerläden in Berlin. Auch wenn die meisten von ihnen bürgerliche Erziehungsinseln geblieben sind, so sind die pädagogischen Inhalte der 68er doch inzwischen zur pädagogischen Grundlage sowohl in den privaten als auch in den staatlichen Einrichtungen geworden. Was während des dreitägigen Vietnam-Kongresses im Februar 1968 an der TU-Berlin begonnen hatte, nämlich die gemeinsame Betreuung der Kinder in den Räumen der TU, um auch weiblichen Teilnehmern die Möglichkeit zur Diskussion zu geben – es war die Geburtsstunde der Berliner Kinderläden. Und einer der ersten, der diese revolutionäre Pädagogik in einen Arbeiterbezirk trug, war der Sozialistische Kinderladen Berlin Kreuzberg in der Fichtestraße 15. Quellen: Gerhard Bott, Erziehung zum Ungehorsam, Kiepenheuer & Witsch, Berliner Kinderläden <br> |