Kreuzberger Chronik
November 2003 - Ausgabe 52

Die Geschäfte

Antiquarisches und Antiquiertes


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von Peter Kalkowski

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So waren sie alle einmal, die Antiquariate: Verstaubte Labyrinthe, deren Wände aus gebundenem Papier bis unter die Decke reichen, Refugien des Wortes, in denen die Bücher in Zweierreihen hintereinander in den Regalen stehen, sich in den Ecken auf dem Boden zu Türmen stapeln, in alten Schränken Schutz hinter Glas suchen und den schweren Eichentisch belagern. Selbst Aschenbecher und Kaffeetasse finden keinen anderen Platz mehr als den Deckel eines Buches. Jeden verfügbaren waagrechten Zentimeter haben die Bücher genutzt, um sich in den Räumen auszubreiten, sie stehen oder sie liegen, auf dem Rücken oder auf dem Bauch, sie sprechen einen mit ihren Titeln an, sie locken mit den glänzenden Fotografien farbiger Bildbände. Tausende von Büchern, Millionen Seiten beschriebenen Papiers, Milliarden von Buchstaben.

Es ist, als seien sie die wahren Herrscher des Antiquariats, als wären sie ihrem Besitzer über den Kopf gewachsen, und als sei der Ariadnefaden in der geheimnisvollen Welt der Bücher verlorengegangen. Und doch gibt es zwei Männer, die sich auskennen in dem vermeintlichen Chaos, die zielsicher auch das unbekannte Werk eines unbekannten Literaten noch aus der zweiten Reihe ziehen können, falls es sich in ihrer Sammlung befindet: Die Brüder Riewert Quedens Tode und Harboe Tode.

Vor dreißig Jahren haben sie sich in der Dudenstraße niedergelassen – und sind geblieben. Sie begannen mit Büchern, die in den Siebzigern viele Leser fanden. Die alten Themenschwerpunkte stehen noch jetzt auf der Visitenkarte: »Nachkriegs- und APO-Zeit, Politik, Geschichte, Soziologie, Rußland, Sowjetunion, DDR.« Nichts lag damals näher als der nahe Osten, auch wenn dazwischen die Mauer stand. Die Brüder Tode waren Bürger aus Westdeutschland, einmal im Monat überquerten sie die Grenze, in der hohlen Kopfstütze des PKWs die verbotenen Bücher von Biermann oder Trotzki für die Ostberliner, auf dem Rückweg Erich Arendt oder Bücher des »Malik-Verlags« für den Westen. Die Grenzsoldaten kannten die beiden Brüder schon, bemerkten es, wenn Herr Tode einmal keine Pfeife im Mund hatte, aber die Schmuggelware bemerkten sie nie. Deshalb ist für einige Ostalgiker und Sammler der DDR-Literatur das Antiquariat Tode mit seinen alten Schallplatten von Manfred Krug oder der 1,5 Meter langen »Karl May Gesamtausgabe« zum Schatzkästchen geworden.

Doch nicht nur Ostalgiker werden bei Tode fündig. Seit dem Oktober 1973 ist das Sortiment stetig gewachsen, die Bücher sind allmählich in die Küche und das Büro gewandert und die Wände hinaufgeklettert. Von »Literatur in Erstausgaben« und »signierten Büchern«, von »Flugblättern« und Noten bis zu Aquarellen reicht das Spektrum, von den Fischer-Taschenbüchern der Bände 1-435 bis zu der Sammlung von Rowohlt-Taschenbüchern Nummer 1-170, das Stück für 2,50.

Schaufenster Tode
Foto: Michael Hughes
Und nicht nur Bücher gab es im Osten, es gab auch sonst so allerlei, und einiges davon baumelt jetzt von der Decke der »Kleinen Galerie am Kreuzberg«, wie sich ein Zimmer im Antiquariat nennt. Lüster und Lampen, dickbäuchige Flaschen und schmalbäuchige Saiteninstrumente, Gläser und Schmuck, »Kleinmöbel und Trödel«, Antiquarisches und Antiquiertes. Bis vor einigen Monaten schwebte unter der Decke noch die barocke Figur eines hölzernen Engels, der ganz offensichtlich nicht weiblichen, sondern männlichen Geschlechts war. Mehrmals kam eine Dame herein, um das Schmuckstück zu betrachten. Eines Tages kaufte sie ihn wirklich.

Seit diesem Tag steht der ausgestopfte Pinguin etwas einsam dort oben in staubiger Höhe. Er ist der einzige seiner Art. Obwohl Riewert Quedens Tode 2000 solcher Exponate in seiner ganz privaten Pinguinsammlung hat, der kleinste ist nicht einmal 1,5 cm hoch. »Aber das ist eine andere Geschichte, die Geschichte dieses Pinguins!«, sagt Tode und winkt ab. Wer sie lesen möchte, der wird demnächst ein kleines Büchlein in der Dudenstraße finden, erschienen im Verlag »amBeation«, von einem gewissen Riewert Quedens Tode. Denn die Todes sind nicht nur Sammler und Jäger, sie sind auch Dichter und Verleger. Im November wird der Einmann-Verlag vierzig, im September wurde der Chef sechzig. Er hatte sich gewünscht, daß man seinen Sparpinguin mit möglichst vielen Scheinen stopfen möge, damit er endlich »Pinguinöses« herausgeben könne, das schon seit langem auf der Liste der lieferbaren »Randlage«- und »Leserstrahl«-Hefte steht, aber noch nie gedruckt wurde. Im November wird »Pinguinöses« und die Geschichte des ausgestopften Pinguins nun endlich erscheinen.

»Mit Büchern leben!« haben die Brüder Tode auf ihre Visitenkarte geschrieben. Doch daß die Buchstaben allein zum Leben nicht reichen, wissen auch sie. Seit 1980 verkaufen sie deshalb neben Büchern und Antiquitäten auch Weine und Spirituosen eines Winzers namens Korfmann. Und zweimal im Jahr geschieht etwas, das jedem, der das Antiquariat in der Dudenstraße einmal betreten hat, und jedem, der dann zufällig durchs Fenster schaut, wie ein Wunder erscheinen muß: Es passen tatsächlich noch 20 Menschen in das um jeden Zentimeter kämpfende Bucharsenal. Sie sitzen dicht aneinandergedrängt im Kerzenlicht um den großen Eichentisch, der unter den Bücherbergen zum Vorschein gekommen ist, und der Antiquar liest mit sonorer Stimme eine literarische Hymne auf den Wein.

Dann ergreift der Winzer das Wort, mahnt zur Mäßigkeit, denn dem ersten Glas Dornfelder sollen noch 23 andere Weine, Sekte, Liköre und Brände folgen. Und falls die Trinker am Anfang noch ein wenig steif und still auf den Stühlen sitzen sollten, am Ende rutschen sie immer gemütlicher hin und her, unterbrechen den Weinverkäufer bei seinen wissenschaftlichen Ausführungen mit ihren Scherzen, und folgen am Ende beinahe alle mit den Gläsern in der Hand der Spur der Bücher bis in die Küche und bestellen Wein. Manchmal fragt jemand Herrn Tode nach dem Preis des schweigsamen Pinguins, der dort oben über alles wacht, und dann sagt Herr Tode mit hochgezogenen Augenbrauen: »Sie können alles haben. Nur den Pinguin nicht«. Aber manchmal, wenn der Wein ihn etwas redselig macht, erzählt er dann doch die Geschichte vom Pinguin.

Die nächsten Weinproben des Winzers Korfmann finden jeweils um 20 Uhr am 8., 9., 10., und am 14., 15., und 16. November 2003 im Antiquariat Tode, Dudenstraße 36, statt. Nur bei telefonischer Voranmeldung unter (030) 786 51 86. <br>

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