Mai 2003 - Ausgabe 47
Die Literatur
Gerhard Seyfried: Herero von Gerhard Seyfried |
24. April (Sonntag) Der Tag vergeht wie alle anderen, außer, daß es zum Abendessen Perlhühner gibt. Zähringer hat die fetten Vögel gestern geschossen, Lambert und Abraham rupfen die Hühner und braten sie über der Glut. Dazu gibt’s Reis und Kaffee. Abends schreibt Ettmann ins Postenbuch: Sehr heiß. Wolkenlos. Vergangene Nacht kalt, etwa 5 Grad Celsius. Er starrt auf das Geschriebene und denkt, da fehlt noch: Stumpfsinn. Nachts liegt er schlaflos und lauscht der Stille. Solche Stille kennt er nur aus der Nürnberger Wohnung der Großeltern, wenn er als Kind in dem weichen, dicken Federbett lag, in dem er versank wie in einem Schlaraffenland-Pudding, und lauschte, ob denn gar nichts zu hören sei. Und wirklich, da pochte es von fern und wurde zu leisem Klopfen und endlich zu Schritten und bog in die Straße ein, vorne von der Fürther Straße her, und wurden laute, hallende Absätze auf dem Trottoir – Tock! Tack! TOCK! TACK! Tock! Tack! – und gingen vorbei und wurden allmählich wieder leiser, oder aber es klingelten Schlüssel, und dann knarrte und quietschte eine Tür und fiel endlich ins Schloß, und es war wieder Ruhe. In Berlin hatten sie, bevor sie nach Friedenau zogen, eine Zeitlang in der Teltower Straße gewohnt, Ecke Großbeeren, in der Beletage, an sich eine schöne Wohnung mit viel Platz. Aber es war laut. Feinheiten wie Schritte oder das Gebrabbel Betrunkener waren da nicht zu hören, denn nur einen Block weiter lag der Anhalter Güterbahnhof, und dort wummerten Tag und Nacht die Puffer, pfiffen die Lokomotiven und schrillten die Pfeifen der Rangierer. Auf dem Pflaster ratterten die Eisenreifen der Fuhrwerke, die elektrischen Läutwerke der Straßenbahnen schrillten, Räder kreischten in engen Kurven. Tagsüber kamen dazu die Geräusche vom Kasernenhof. Nach hinten hinaus lag nämlich die Kaserne des 1. Garde-Dragoner-Regiments, und wenn er sich ganz weit aus dem Fenster im Dienstbotentreppenhaus lehnte, konnte er zwischen den Hinterhäusern ein Stückchen vom Exerzierplatz sehen. Jeden Tag, vormittags wie nachmittags, kletterten da kleine, weiß gekleidete Gestalten die hölzerne Eskaladierwand hinauf und sprangen auf der abgewandten Seite wieder hinunter. Den ganzen Tag kam Gebrüll von dort, das leider unverständlich blieb, aber auch viel Gepfeife mit Trillerpfeifen. Von den Pferden der Dragoner war vom Fenster aus nichts zu sehen, aber gelegentlich konnte er die Ställe riechen, wenn der Qualm der Lokomotiven vom Anhalter nicht gerade in die Richtung zog. Die Kaserne lag an der Belle-Alliance-Straße, fast am Blücherplatz beim Halleschen Ufer, und wenn eine Schwadron zum Tempelhofer Feld ausrückte, rannten alle Buben, was sie rennen konnten, zum Kasernentor, um sich das Spektakel anzusehen. Am besten war es natürlich, wenn das gesamte Regiment ausmarschierte, mit Fahnen und Musik und allem Drum-und-Dran, an Kaisers Geburtstag zum Beispiel. Der war damals natürlich am 22. März, denn das war noch zu Wilhelms I. Zeiten. Und hinterher, fällt ihm plötzlich wieder ein, hinter den letzten Dragonern, kam der alte Knesebeck mit seiner Schiebekarre und dem Kehrblech, die Pferdeäpfel aufsammeln. Dem liefen sie dann nach und sangen: »Knesebeck, Knesebeck, mach de Pferdescheiße weg!« Für ihn, den Knaben Carl, und für seine Kumpanen war die Gegend natürlich großartig, und sie verbrachten Stunden bei den Brücken über die Yorckstraße, oben an den Gleisen im Gebüsch versteckt, wo die Lokomotiven vorbeidonnerten, hinein in die Stadt oder hinaus in die weite Welt, stählerne Ungetüme, tobend und brüllend vor ihren langen Wagenschlangen, mit glühenden Augen in weißen Dampf gehüllt und mit schwarzen Qualmstößen den Himmel verfinsternd. <br> |