Kreuzberger Chronik
Mai 2003 - Ausgabe 47

Essen, Trinken, Rauchen

Der Grauzopf und die Knödel


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von Michael Unfried

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»Hier gibt’s nichts Vegetarisches!« – »Doch, Salat!« – »Aber hier kann man sich nicht unterhalten. Es ist zu laut!« – »Wir wollten ja auch was essen! Von Unterhalten war nicht die Rede!« – »Außerdem sind hier alle so gut gelaunt. Da bekomme ich schlechte Laune!« – »Kann ich mir nicht vorstellen: Du – und schlechte Laune!«

Das Paar trug einerseits einen grauen Pferdeschwanz, andererseits blondierte Dauerwellen. Es war beidseitig etwa 60 Jahre alt und lebte offensichtlich schon geraume Zeit zusammen. Eine Weile stand es verloren zwischen den vielen Tischen, Stühlen und rauchenden, redenden und lachenden Menschen. Er zupfte sie vorsichtig am Ärmel in Richtung Ausgang, doch sie tat, als merke sie nichts.

»Da! Da wird gerade etwas frei!«, rief sie und zog ihn auf das reizende alte Sofa zu. Als er sich setzte und spürte, daß die üblichen weichen Federkerne durch eine Holzplatte mit einer unzureichenden Schaumstoffschicht ersetzt worden waren, stöhnte er laut auf. »Hart ist es auch noch!«

Hilfesuchend blickte er sich um. Doch die Gäste im Lokal schenkten seinem Ausruf ebensowenig Beachtung wie seine langjährig Angetraute. Alle schienen ihn zu ignorieren. Sie lachten und diskutierten, sie stießen mit ihren gewaltigen Bieren an und kippten den Wein herunter, als wäre es Wasser. Es war eine furchtbare Stimmung in diesem Lokal.

»Sie möchten etwas essen?«
»Ich bin mir nicht so sicher«, sagte er.
Sie sagte: »Ich bekomme den Schweinebraten mit Knödeln! Und ein Jever bitte!«
»Und der Herr?«
»Der Herr möchte noch etwas Bedenkzeit und eine Apfelsaftschorle!« Dann wandte er den Blick von der Kellnerin ab.
»Groß oder klein?«
»Ähm – vorsichtshalber lieber klein!«
»Ist aber ein guter Jahrgang!«, sagte die Kellnerin und ging.
»Dürfen wir uns da hinsetzen?« Der Grauzopf antwortete mit einem schlechtgelaunten Blick. Aber die jungen Leute, die mit ihren Biergläsern in der Hand aus dem Garten kamen, weil es allmählich kühler wurde, verstanden diesen Blick nicht. Sie setzten sich und führten ihre Unterhaltung in jener Lautstärke fort, die sie vom Garten her gewohnt waren. Sie wurden auch nicht leiser, als die Kellnerin den Sofasitzern das Essen auftischte.

»Dabei kann man sich doch nicht unterhalten!«, murmelte der Grauzopf in seinen gigantischen Salatteller.
»Du sollst ja auch essen!«, antwortete die hellhörige Frau an seiner Seite. Dann stach sie in einen saftigen, duftenden Schweinebraten, umgeben von einer steinpilzbraunen Soße, aus der die wohlgeformten, dampfenden, großen Rundungen der Knödel aufragten. In diesem Moment schwiegen sogar die jungen Leute am Tisch für einige Sekunden andächtig. Und dem Salatesser lief das Wasser im Mund zusammen. Seine Miene verfinsterte sich zusehends.

Als wenig später einige gutgelaunte Musiker das Lokal betraten, plötzlich ihre Instrumente auspackten und ins Horn zu blasen und am Kontrabaß zu zupfen begannen, was die Stimmung im Lokal weiter anzuheizen schien, legte der grauzöpfige Salatesser sein Besteck nieder, schob einen größeren Geldschein auf den Tisch, erhob sich und ging.

Die blonde Dame sah man später noch lange mit den gutgelaunten jungen Männern auf dem Sofa sitzen und lachen. Sie wurde seit diesem Tag häufig im Yorckschlösschen gesehen – der Grauzopf jedoch nie wieder. <br>

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