März 2003 - Ausgabe 45
Strassen, Häuser, Höfe
Stresemannstraße von Thomas Heubner |
Unverdientermaßen scheint von ihm nur wenig geblieben. So der nach ihm benannte und von Diplomaten gern getragene Gesellschaftsanzug, bestehend aus schwarzgrau gestreifter Hose, schwarzem Sakko und grauer Weste, mit dem sich sogar einstige Turnschuh- und Lederjackenträger heute noch kleiden. Dann das geflügelte Wort vom »Silberstreifen am Horizont«, das ihm über Jahrzehnte hinweg unbeirrt andichtet wurde, dessen Urheber jedoch tatsächlich einer seiner Untergebenen war. Und schließlich jene Straße in Kreuzberg, die directement vom Potsdamer Platz zum Willy-Brandt-Haus, der modernen SPD-Trutzburg, und bis zur Wilhelmstraße führt, wo sich ein paar Meter weiter vor gut 80 Jahren Stresemanns Arbeitsplatz befand. Die heutige Stresemannstraße trug 1867 noch den Namen eines Ortes, an dem die Preußen eine ihrer glorreichen Schlachten schlugen, und hieß »Königgrätzer Straße«. 1929 taufte man sie auf den Namen des ehemaligen Reichskanzlers und Außenministers. Es dauerte knapp sechs Jahre, bis Hitler die Huldigung des ihm verhaßten »Erfüllungspolitikers« rückgängig machte und die Allee in Saarlandstraße umbenannte – anläßlich der Wiedereingliederung des Saarlandes ins Tausendjährige Nazireich. 1947 erfolgte dann die Rückbenennung in Stresemannstraße. Und so verwirrend die Namensgeschichte ist, so widerspruchsvoll ist auch die Biographie des Namensgebers. Stresemann wird am 10. Mai 1878 in der Köpenicker Straße 66 geboren. Das Haus gehört seinem Vater Ernst Stresemann. Dieser verdient sein gutes Geld als Bierverleger, der Weißbier in Flaschen füllen läßt und an die Kunden liefert. An einer Theke im Haus verkauft er zudem Bier, Korn, Soleier und Rollmops. Ein einträgliches Geschäft. Gustav, das jüngste Kind der Familie, kennt also keine finanzielle Not, wächst in der »heilen Welt« auf, geprägt von grundsolider Ordnung und altpreußischer Einfachheit, gott- und schicksalsergeben, jeder »neuzeitlichen« Strömung abhold. Immerhin ist der Beruf des Vaters dem Jungen ein paar Jahre später handfeste Grundlage seiner Doktorarbeit zum Thema »Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts«, einer Untersuchung der untergehenden mittelständischen Bierverlage und aufstrebenden Großbrauereien. Zuvor wird er aber im Andreas-Real-Gymnasium eingeschult, leise bedauernd, daß er nicht im benachbarten humanistischen Gymnasium lernen darf. Denn Mathematik und Physik behagen ihm wenig, er ist mehr der Sprache, Geschichte und Religion zugeneigt. 1897 läßt sich Stresemann als Student der Literatur und Geschichte an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität immatrikulieren und wechselt später an die Leipziger Alma mater. Hier blüht er vor allem als Korporierter auf, als Mitglied einer Reformburschenschaft, zuerst der »Neo-Gemania«, dann in Leipzig der »Suevia«. Kein Nachteil für den jungen Mann, der sich mittlerweile dem Studium der Nationalökonomie zugewendet hat. Denn er lernt die Schwester eines Fecht- und Bundesbruders kennen, die er 1903 heiratet. Und letzten Endes sind die »älteren Herren« der Burschenschaft nicht ohne Einfluß innner- und außerhalb der Universität. Sofort nach absolviertem Studium, im März 1901, tritt der frischgebackene Doktor phil. seine erste Stellung als Assistent im Verband Deutscher Schokoladenfabrikanten in Dresden an, Anfangsgehalt 1000 Mark im Jahr. Er ist klug und emsig und avanciert ein knappes Jahr später zum Ersten Syndikus, dem Rechtsbeistand des soeben gegründeten Verbandes Sächsischer Industrieller. Dem gelungenen Eintritt in die Wirtschaft folgen rasch die ersten Schritte in die Politik. Zunächst fühlt er sich von der Liberalen Vereinigung angezogen, die vom »Volkskaisertum« schwärmt. 1903 tritt er in die Nationalliberale Partei ein, preist die deutschen Kolonien, glaubt, daß Deutschlands Zukunft auf den Weltmeeren läge und setzt sich für einen stärkeren Einfluß der Industriellen ein. Der »Hunger nach Macht« führt ihn schnurstracks als jüngsten Abgeordneten in den Deutschen Reichstag. Auch in Berlin faßt er schnell Fuß, wird Mitglied des »Bundes der Industriellen« sowie des »Hansa-Bundes«. Das Extrakt seiner zahlreichen Reichstagsreden: »Völkerpolitik ist heute in erster Linie Weltwirtschaftspolitik.« Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird Stresemann vom nationalistischen Taumel erfaßt. Er wettert gegen den Hauptfeind England und gegen den Erzfeind Frankreich, im »Alldeutschen Verband« tritt er vehement für einen »Siegfrieden« mit größtmöglichen Annexionen für Deutschland auf. Nachdem der Traum vom deutschen Endsieg ausgeträumt, die Monarchie gestürzt und in Weimar eine Republik gegründet ist, wandelt sich Stresemann, nunmehr Mitglied der neuen Deutschen Volkspartei (DVP), vorsichtig vom Saulus zum Paulus. Aus dem einstigen Monarchisten, der während der Ostseeurlaube die Sandburg vorzugsweise mit schwarzweißroten Fähnchen schmückte, wird ein Republikaner und Realpolitiker. Vor allem im Krisenjahr 1923 wird er als Mann des Ausgleichs und gewiefter Taktiker gebraucht – eine Große Koalition wählt ihn zum Reichskanzler. Zu einem Zeitpunkt, als die Inflation schwindelerregende Höhen erreicht, wird mit der Einführung der Rentenmark die Währung wieder stabilisiert. Stresemann zeigt Zivilcourage und Charakter, er widersteht der Verlockung, sich laut verfassungsmäßiger Notverordnung und Ermächtigungsgesetz zum Diktator aufzuschwingen. Während seiner 100tägigen Kanzlerschaft werden nicht nur in Sachsen und Thüringen die Landesregierungen mit kommunistischer Beteiligung durch die Reichswehr abgesetzt und der Hamburger Arbeiteraufstand niedergeschlagen, sondern erleidet auch Adolf Hitler in München mit seinem Bierkeller-Putsch ein jämmerliches Fiasko. Zwar scheitert Stresemann durch einen Mißtrauensantrag als Reichskanzler, doch bleibt er in den zahlreichen folgenden Kabinetten als Außenminister die überragende Persönlichkeit. Insbesondere den Ausgleich mit Frankreich und die Rückkehr Deutschlands als gleichberechtigter Partner in den Kreis europäischer Mächte hat er sich auf seine Fahnen geschrieben. Der deutsch-französische Vertrag von Locarno 1925, Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund, der »Freundschaftsvertrag« mit der Sowjetunion 1926 und der Kellog-Pakt 1928 sind Ergebnis seines Wirkens. Als Visionär fragt er »Wo bleibt die europäische Münze, die europäische Briefmarke?«, und erhält gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Briand als erster Deutscher den Friedensnobelpreis. In den Monaten vor seinem Tod bleibt dem liberalen Politiker der Rechtsruck in der Gesellschaft und in der eigenen Partei nicht verborgen. Wir »werden mehr und mehr zu einer reinen Industriepartei, ein für mich unerträglicher Gedanke«, klagt er. Nach seinem Tod am 3. Oktober 1929, als Stresemann zu Grabe getragen wird, stehen tausende Berliner am Brandenburger Tor und Unter den Linden Spalier. Sie ahnen nicht, daß vier Jahre später an gleicher Stelle Braunhemden mit Fackeln marschieren. <br> |