Kreuzberger Chronik
März 2003 - Ausgabe 45

Die Literatur

Yadé Kara - Selam Berlin


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von Yad? Kara

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Ein türkisches Reisebüro am Tag nach dem Fall der Mauer

Am Kottbusser Tor war der Himmel eisblau. Kalter Wind blies mir ins Gesicht. Es war so eisig, daß die Hundescheiße am Wegrand gefroren war. Vor meiner Nase dampfte mein Atem.
Das große weiße Hochhaus glich Taubennestern im Felsen. Es versteckte die Adalbertstraße. Erst dahinter sah man in der Ferne Fetzen von der Mauer.
Es war Mittag. Ich lief Richtung Reisebüro. Die Geschäfte waren voll. Vor mir leerten einige Jungs einen ganzen LKW mit Bananen. Die Massen drängten sich auf die vollgepackten Tüten. Händler hatten alle Hände voll zu tun. War der Krieg ausgebrochen? Inflation angesagt? Oder Winterschlußverkauf bei Woolworth?
In den Restaurants dampfte es aus den Töpfen, und neu aufgesetzte Dönerspieße drehten sich pausenlos im Kreis. Die Luft roch nach Dieselgemisch mit Döner. Die Kreuzung Adalbert/Oranienstraße war Dreh- und Angelpunkt. Das Herz Kreuzbergs. Die New-York-Sandwichbar reihte sich an die türkische Bäckerei, den Gemüseladen, daneben das Import-Exportgeschäft mit dem letzten Kitsch. Es war immer Bewegung in dieser Ecke. Mir fiel der Spruch ein: Where is Hareket, there is Bereket. (Wo Aktion ist, ist auch Profit)
Das Galata-Café war eine Art Treffpunkt der Männer. Es war eine Art Dorfcafé. Morgens gingen die alten Männer in die Fabriken und abends ins Galata. Silvester wurden hier ganze Jahresersparnisse verspielt und Familien zerstört. Hier kochte ständig der Tee, und die Luft war immer verraucht. Das Neonlicht ging nie aus.
Von weitem sah ich eine Schlange vor dem Reisebüro meines Vaters. Wollten die alle nach Istanbul fliegen?
Seit langem lief das Reisebüro nicht mehr so gut wie in den früheren Jahren. Damals, als der Zypernkrieg ausbrach und der Flugverkehr zwischen Istanbul und Berlin boomte, ja, damals, 1973, waren Baba und sein bester Freund Halim Studenten an der Technischen Universität Berlin gewesen. Sie studierten Luftfahrttechnik und Ingenieurwesen. Baba und Halim liefen mit langen Haaren, Lenin-Ziegenbart und Koteletten herum. Sie hatten ein Stipendium bekommen und verließen Istanbul mit marxistischen Theorien, Idealen und Ideen im Kopf und stürzten sich voller Enthusiasmus auf Berlin. Doch sie stellten bald fest, daß es in Westberlin kapitalistisch zuging. Der Sozialismus befand sich ein Stückchen weiter, auf der anderen Seite der Mauer, in Ostberlin. Und weil sie im falschen Teil der Stadt gelandet waren und ihr Enthusiasmus nicht lange anhielt und das Kapital die Spielregeln diktierte, mußten sie sich wie alle Immigranten dieser Erde auf ihren Einfallsreichtum besinnen. Und der sagte Reisebüro! Sie waren Fremde in Westberlin und brauchten Geld. So eröffneten sie dieses Büro. Es war ein Eckgeschäft in bester Lage. Ihr Studium, ihre Träume von sozialistischem Fortschritt und moderner Technik hängten sie vorübergehend an den Haken.

(-) Jetzt stand eine Schlange von Menschen in grauen Jacken und Mänteln am Eingang des Reisebüros und versperrte mir den Weg. Ich wühlte mich höflich an ihnen vorbei und sah durch die Scheibe Baba, Halim und dessen Frau Ingrid. Sie standen vor einem Plakat mit weißen Stränden, Palmen und Baccardi Girls. Vor ihnen Körbe mit Bananen, Kiwis und Orangen. Ey, sie hatten das Reisebüro in einen Obstladen umgewandelt. Ich war baff!
Die Leute drängten, und Halim schmiß wie wild die Ware in die Menge. Ingrid kassierte, leerte Kisten aus. Mit dem Ärmel wischte er sich Schweißperlen von der Stirn.

(Entnommen aus Yadé Kara, »Selam Berlin«, Diogenes, März 2003, 21,90 Euro) <br>

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