März 2003 - Ausgabe 45
Die Freizeit
Gassigehen von Michael Unfried |
Zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen des naturentfremdeten Berliners gehört neben dem Fernsehen die Schrebergartenpflege und die Tierhaltung. Während in den besseren Gegenden der Stadtmitte sich Aquarianer mit einer künstlichen Unterwasserwelt unterhalten, versuchen am Stadtrand die Vogelliebhaber Papageien und anderen Piepmätzen menschliche Laute beizubringen. Der Wedding, Neukölln und Kreuzberg aber gehören den Hundeliebhabern. Und da in diesen Bezirken die Arbeitslosenrate noch ein bißchen höher ist als irgendwo sonst in der Stadt, haben ihre Bewohner die Möglichkeit, sich intensiv um die Vierbeiner zu kümmern. Das Verhältnis von Mensch und Tier ist in Kreuzberg, im Wedding und in Neukölln besonders innig, zumal Mensch und Tier noch häufig in einer Art WG zusammenleben. Vor allem in Kreuzberg, wo einst Männer und Frauen noch in kleinen Rudeln beisammenwohnten, diskutierten, putzten, schliefen und Kinder erzogen, bilden nun immer häufiger Mensch und Tier eine Art alternativer Lebensgemeinschaft. Ein oder zwei Mal am Tag verlassen sie die WG, um gemeinsam Gassi zu gehen. Kaum erahnt man die Sonne am Horizont, erscheinen die ersten Bewohner mit ihren Hunden vor der Tür. Im Sommer treten sie mitunter noch in Pantoffeln und Frotteesocken ans Tageslicht. Plüschige Miniaturausgaben des Hundes, die eher an ein Sofakissen als ein Lebewesen erinnern, zerren ihre schon älteren Herrchen oder Frauchen zum Bäcker, zum Zigarettenautomaten, zum BZ-Verkäufer und zum nächsten Strauch. Falls es keinen Strauch gibt, pißt und scheißt das Vieh an Ort und Stelle, während Herrchen und Frauchen am Himmel nach dem Wetter forschen. Der Miniaturhund riecht meistens wie ein Aschenbecher, hat Halsbänder und Schleifen im Haar und neigt trotz der ohnehin gedrungenen Gestalt dazu, sich noch tiefer zu ducken. Etwa gegen acht Uhr betreten die Rassehundehalter den Kreuzberg. Collies, Setter und Doggen joggen neben ihren jungen Besitzern durch den Park, drehen noch eine Runde vor dem Frühstück, das aus biologischem Hundefutter besteht, und dürfen manchmal im neuen Auto mit ins Büro fahren. Die Luxushunde sind versichert, besitzen einen Paß, sind im Testament verewigt und führen ein angenehmeres Dasein neben ihren menschlichen Begleitern als der eigentliche Lebenspartner. Falls es einen solchen gibt. Am Nachmittag aber kommen dann endlich die arbeitslosen Kreuzberger und führen ihre modischen Kurzbeiner ins Feld. Ihre gedrungene Gestalt erinnert an die kleinen, braunen Boxerfiguren aus Plastik, die in den Siebzigern hinter den Heckscheiben der Automobile auftauchten und den Fahrer des folgenden Wagens durch beständiges Kopfschütteln zur Raserei brachten. In dem Blick dieser traurigen Modeerscheinung spiegelt sich ebensoviel Intelligenz wie in den wackelnden Plastikfiguren. Auch im Blick von Hund und Hundehalter finden sich einige Parallelen, was manch friedlichen Spaziergänger am Kreuzberg beunruhigt. Schließlich ist bekannt, daß Mensch und Tier einander nach einigen Jahren des gemeinsamen Lebens immer ähnlicher werden. Mit dem stieren Blick der überzüchteten Kurzbeiner allerdings kann kein noch so dümmlicher menschlicher Gesichtsausdruck konkurrieren. Und auch, wenn die Hundebesitzer dazu neigen, ihre Zöglinge durch Bellen und Blaffen, manchmal durch animalisches Brummen und Knurren zur Räson zu bringen, so beißen Herrchen und Frauchen in der Regel nicht. Das bleibt noch immer ihren Hunden vorbehalten. <br> |