Kreuzberger Chronik
Juni 2003 - Ausgabe 48

Die Literatur

Jockel Tschiersch: Gratsch


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von Jockel Tschiersch

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Jörg fuhr hinüber nach Kreuzberg in die Oranienstraße. Unter dem Schild, das auf das Pathos-Theater im dritten Hinterhof hinwies, ließ er den Käfer stehen und ging in die Toreinfahrt. Die Höfe hatten sich kaum verändert, immer noch lag Dreck und Gerümpel herum. Es gab kaum eine Ecke, in die er damals nicht nach Vorstellungen oder Besäufnissen mal hingepisst hatte, wie ein Hund, der seine Duftmarken setzt. Die Tür zum Theater war immer noch die alte Gasschutztür, die wohl noch aus Kriegszeiten stammte und alle drei Jahre mit einer neuen Farbe überpinselt worden war, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, auch nur einen der alten Anstriche zu entfernen. Jörg öffnete die Tür leise, und sofort schlug ihm der wohl bekannte Geruch entgegen: eine Mischung aus Moderluft, dem beißenden Gestank heißer Scheinwerfer und einem Schweißgemenge aus Bühnentranspiration und Zuschauermief. Der kleine Theaterraum war fensterlos, und wenn man das Haus eines Tages abreißen würde, bliebe der Gestank wahrscheinlich auch ohne die Wände drum herum noch ein paar Wochen stehen. Jörg ging durch einen kleinen Vorraum, wo das Tischchen mit der Kasse stand und den selbst unverbesserliche Euphemisten nie und nimmer als Foyer bezeichnet hätten. Vom Bühnenraum her drangen Probengeräusche. Eine dünne weibliche Stimme mühte sich an einem klassischen Text ab, einzelne Worte oder gar der Sinn waren durch den dicken, dunkelroten Samtvorhang, der den Vorraum vom eigentlichen Theater trennte, nicht zu verstehen. Jörg schlich vorsichtig zum Vorhang und zog ihn einen Spalt weit zur Seite. Drinnen stand bei Neonlicht eine junge, magere Frau im Jogginganzug auf der leeren Bühne und versuchte sich an dem Monolog der Anna aus Shakespeares Richard dem Dritten. In den leeren Stuhlreihen vor der Bühne saß einsam ein alter Mann mit einem kantigen Gesicht, der ein Regiebuch auf den Knien hatte und durch eine dicke Hornbrille hindurch den Sprechversuchen der jungen Frau scheinbar emotionslos zusah und zuhörte. Sofort rief dieses Bild die Erinnerung in Jörg wieder wach. Genau so hatte er vor fünfzehn Jahren auf dieser Bühne gestanden, genau so hatte der alte Mann, Zoltan Schneider, in den leeren Reihen gesessen. Auch das Regiebuch auf Zoltan Schneiders Knien schien noch das alte zu sein, genau wie der alte zentrale Neonscheinwerfer, der bei Proben als ausschließliche Lichtquelle obligatorisch war, weil er weniger Strom verbrauchte als die Bühnenscheinwerfer für die Vorstellungen.


Zoltan Schneider war das Pathos-Theater, Punkt. Der alte Mann war Intendant, Spielleiter, Dramaturg, Betreiber und Hausmeister des kleinen Theaters in Personalunion. (…)

Jörg Raabe war für knapp drei Jahre Zoltans männlicher Star gewesen, und es hatte eine Weile so ausgesehen, als könnte das kleine Pathos-Theater den Sprung aus der Off-Szene schaffen, hin zur gefestigten Position eines geachteten und ernst genommenen kleinen Privattheaters. Aber irgendwann hatte Jörg sich aus dem Sumpf von Pathos und Zoltan Schneider davongeschlichen, sich an der Seite von Frau Doktor Suchanek abgeseilt in die Verlockungen einer Fernsehkarriere, und Zoltan Schneider war nach der Öffnung der Mauer mit seinem Pathos-Theater irgendwo im Wald der wie Pilze aus dem Ostberliner Boden sprießenden Kleintheater und Showrooms ein wenig verschütt gegangen.

Jörg zog den Vorhang weiter zur Seite, schlich sich leise zur hintersten Stuhlreihe und setzte sich geräuschlos auf einen der leeren Stühle, um die Probe nicht zu stören. (…) Ohne seine Haltung zu verändern oder sich gar umzudrehen sagte Zoltan Schneider, so dass sein Bass den ganzen Raum füllte: »Jörg Raabe. Du bist lange nicht hier gewesen. Du hast dich fortgeschlichen wie ein Hund. Talent hast du gehabt, damals. Aber du warst faul. Das ist schade. Manchmal sehe ich dich im Fernsehen, aber da bist du nicht gut. Nicht so gut wie bei mir damals. Ein fetter Saftarsch bist du geworden. Schäm dich!«

(Entnommen aus Jockel Tschiersch, »Gratsch«, Knaur Taschenbuch, 2003) <br>

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