Juli / August 2003 - Ausgabe 49
Die Geschäfte
Süßes beim Kartoffelhändler von Gudrun Winter Fotos: Michael Hughes |
Herr Schaale steht seit 25 Jahren in dem Laden in der Großbeerenstraße. Früher verkaufte er Kartoffeln. Nichts als Kartoffeln. Und zwar die Kartoffeln des Berliner Kartoffelkönigs, der seit dem Ende des großen Krieges die unumstrittene Hoheit auf dem Westberliner Kartoffelmarkt besaß. Nach dem Fall der Mauer aber wollte auch der Kartoffelkönig Krohn sein Reich in den Osten ausdehnen und kaufte die Konsumfilialen und AO-Märkte im Ostteil der Stadt. Doch die Geschäfte liefen nicht so, wie es sich der Kartoffelkönig vorgestellt hatte, und mehr als einmal muß er vor sich hingemurmelt haben: Ach, wäre ich doch nur bei den Kartoffeln geblieben! Und diesen Meter brauchten sie doch allein für die Kinder. Denn gleich in der Nähe des Geschäftes befinden sich zwei Schulen, und die Schaales haben schnell verstanden, daß in Zeiten wie diesen auch die kleinsten Kunden zählen. Also haben sie ihr Warensortiment mit den Kartoffeln und den Blumen um einige weniger lebenswichtige, aber um so verführerischere Artikel ergänzt, und wenn drüben in der Lehranstalt die Klingel schellt, dann dauert es keine zwei Minuten, bis sich die ersten Kinder vor dem Stand mit dem bunten Süßkram einfinden. Zwei Minuten später stehen sie vor dem Geschäft in der Warteschlange. Natürlich geht es um Eis, in jeder Jahres- und zu jeder Tageszeit. Wassereis zu erschwinglichen 5 Cent, oder Wassereis im »Kratzbecher« zu zehn Cent. »Was wollt ihr Banditen denn schon wieder?«, fragt Herr Schaale, und die Kinder sagen: »Ein rotes, ein blaues, oder ein weißes!« – »Zuerst einmal ist die hier dran!«, sagt Herr Schaale. »Das ist doch meine Schwester!«, entgegnet entrüstet der Junge, der sich vorgedrängelt hat. »Das ist mir vollkommen egal, ob das deine Schwester, deine Großmutter oder deine Freundin ist. Die kommt zuerst dran!« Hier hat eben alles noch seine Ordnung. Man legt Wert auf ein »Bitte«, und wer hier gotteslästerliche Flüche ausspricht, der fliegt raus aus dem Paradies der Süßigkeiten. »Jedenfalls, wenn es so laut ist, daß man es bis auf die andere Straßenseite hört!« – Das ist Gesetz. Andererseits bekommt man hier auch schon mal ein Kratzeis auf Pump. »Bei mir nich!«, sagt Herr Schaale, als er die drei Cent in der offenen Kinderhand sieht, exakt zwei Cent zu wenig. »Aber du kannst es ja mal bei der Chefin probieren!« Und die Chefin zieht ihre Baskenmütze ein Stück tiefer ins Gesicht, setzt ihr strengstes Gesicht auf und sagt dann: »Morgen bezahlst du aber, ist das klar!« Schaales kennen ihre Pappenheimer, auch die Namen der Pappenheimer kennen sie alle: Das ist der Millionär, die Schlafmütze oder die Schweinebacke, da sind Marcel, Fati und Mo. Wenn es nicht das Eis ist, das die jungen Menschen dringend zum Überleben brauchen, dann ist es Yum Yum. Yum Yum gibt es in fünf verschiedenen Varianten. Yum Yum sind getrocknete chinesische Nudeln, also so etwas wie chinesische Kartoffelchips, sagt der Kartoffelverkäufer. Wenn es aber nicht Eis und Yum Yum sind, dann ist es Fruchtgummi: grellbuntes Gummizeugs, sogenannte Lieblinge, Hechte, Rattenschwänze oder blutige Knochen. Lutschgenüsse zu kinderfreundlichen Preisen zwischen 5 und 30 Cent, süße und saure Fruchtgummis, akkurat in kleine Tütchen verpackt, weil die Lebensmittelverordnung das so vorschreibt. Einen ganzen Tag in der Woche verbringt Herr Schaale nur mit dem Einschweißen der kleinen, bunten Gummitiere. Und auch, wenn es immer nur ein paar winzige Cent sind, die sich mit dem Kinderkram verdienen lassen – die Naschereien sind eine sichere Einnahmequelle. Natürlich käme es schon einmal vor, daß ihre Kundschaft sich auf dem Schulweg verspäte oder in der Eile etwas liegen lasse. Auch ein Schulranzen sei neben der Tüte mit den weißen Mäusen plötzlich so nebensächlich geworden, daß er im Laden stehenblieb. Ganz zu schweigen von vergessenen Turnbeuteln, Handschuhen oder einem stehengelassenen Fahrrad. Auch eine Spange war beim Kauen des fruchtigen Gummis offensichtlich nur noch hinderlich – aber auch sie wurde später bei Schaales wieder aufgefunden. Hier geht nichts verloren, der Kartoffelverkäufer und die Blumenfrau pflegen ihre kleine Kundschaft. Sie können auf sie nicht mehr verzichten. Gemüse und Blumen kauft Herr Schaale jetzt zu Preisen ein, zu denen er es vor der Einführung des Euro noch an seine Kunden verkauft hat. Und auch, wenn man bei Schaales noch immer acht verschiedene Sorten hervorragender Kartoffeln findet, in jeder noch meßbaren Menge und aufs Gramm genau mit der alten, staatlich geeichten Waage abgewogen: Von den Kartoffeln können sie nicht mehr leben. Auch die Blumen, die Ziegenmilch, die getrockneten Kräuter, die »frischen deutschen Eier« in allen Größen, das ganze Gemüse, dieses liebevolle Sortiment des antagonistischen Geschäftes würde nicht mehr zum Leben reichen. Natürlich haben sich die beiden Eheleute mit ihrem Charme und ihrer Gewissenhaftigkeit auch unter ausgewachsenen Zweibeinern eine Stammkundschaft erarbeitet. Aber es gibt nun einmal ziemlich viele türkische Gemüsehändler in dieser Gegend. Da kann man mit Gurken und Tomaten kein Brot mehr verdienen. Nicht einmal dann, wenn man, wie Frau Schaale, jeden morgen schon um fünf mit dem Aufbau beginnt. »Ach, drei, vier Jahre noch – dann ist es auch genug. Dann steh’ ich hier ein halbes Leben.« Herr Schaale blickt vorsichtig zu seiner Frau hinüber, die Marcel gerade ein paar Fruchtgummis extra in die Tüte steckt. »Oder?« fragt er. Aber seine Frau füllt schon die nächste Tüte ab. Sie macht nicht den Eindruck, als denke sie daran, irgendwann einmal die Arme in den Schoß zu legen. <br> |