Februar 2003 - Ausgabe 44
Herr D.
Herr D. im Winter von Hans W. Korfmann |
Herr D. erwachte. Irgend etwas war anders an diesem Morgen, aber er kam nicht gleich darauf. Erst, als er mit dem Kaffee in der Hand aus der Küche in sein Wohnzimmer zurückkehrte, wurde ihm die merkwürdige Stille bewußt. Der dumpfe Puls der Großstadt, das ewige Dröhnen war verschwunden. Schnee, dachte Herr D. und riß die Vorhänge beiseite. Da lag Berlin unter einem graublauen Winterhimmel, weiß vom Kreuzberg bis zum Fernsehturm. Flocken segelten in die Morgendämmerung, nur ab und zu tastete sich ein Taxi auf der glatten Straße den Kreuzberg hinauf. Herr D. ging trotzdem zur Arbeit. Etwas später als sonst. Jeder normale Mensch nutzte die einmalige Chance des von den deutschen Verkehrsbetrieben stets unerwarteten Wintereinbruchs, um lächelnd die beste aller Verspätungsentschuldigungen vorzutragen: »Der Bus! Die Bahn! Der Stau!« Bei diesem Wetter reichten zwei Worte. Herr D. studierte das Gesicht des Busfahrers. Berlins Busfahrer waren D.’s Gradmesser für die Stimmung in der Stadt. Denn die Laune der Busfahrer war stets umgekehrt proportional zum Allgemeinbefinden. Wenn irgendwo in Berlin gefeiert wurde, wenn das Wetter sonnig und viele Menschen unterwegs waren, wenn eine Mauer zusammenbrach und ein vierzigjähriger Bruderkrieg beigelegt wurde, dann konnte man sicher sein, daß die Busfahrer eine grimmige Miene aufsetzten. Dann waren sie die Märtyrer Berlins, mußten Sondertouren fahren, blieben im Stau stecken, wurden die gesamte Dienstzeit über von gut gelaunten, witzigen Fahrgästen angepöbelt. Der Fahrer sah furchtbar aus. Seine Mitreisenden dagegen waren guter Stimmung, wischten sich Gucklöcher in die beschlagenen Scheiben und machten den Eindruck, als könne die Reise ihrethalben bis zum Großglockner gehen. Auch in D.’s Büro herrschte noch eine Art nachweihnachtlicher Frieden: Die Regierung hatte den Jahreswechsel unbeschadet überstanden, auch der Krieg ließ noch auf sich warten. Verärgert waren die Kollegen nur über die Schneeräumung. Doch eher aus Prinzip. Die Bonner seien eben besser gewesen. Herr D. hätte auch ohne Schneeräumung leben können. Insgeheim wünschte er sich einen Schneesturm. Alles würde etwas langsamer gehen, der Verkehr auf den Straßen, die Menschen auf den Gehsteigen, die Maschinen der Fabrikationshallen … – Die LKW drängen nicht mehr bis Berlin vor, die Kanäle frören zu, Schneewehen auf den Bahngleisen. Alle kämen zu spät. Eine seltene Ruhe würde in der Stadt einkehren. Ein Hauch von Paradies. Aber als Herr D. am Abend heimkam, wunderte er sich. Offenbar hatte sich halb Berlin auf dem Kreuzberg versammelt, um Wintersport zu betreiben. Der Hügel vor seinem Haus war voller Kinder, die Schlitten den Berg hinaufzogen. Ausgewachsene Menschen rutschten auf funkelnagelneuen Langlaufskiern durch die Landschaft und stießen kleine Atemwölkchen vor sich her. Andere hatten tiefliegende Rennrodel über der Schulter wie Offizier Hackl und schützten die Ohren mit Stirnbändern wie Ingemar Stenmark. Ganz oben warteten die Mütter der rodelnden Kinder in kleinen Gruppen und rauchten und sorgten sich um den heulenden, schneeverklebten Nachwuchs. Herr D. war der einzige, der ohne Sportgerät, Kind oder zumindest Hund unterwegs war. Von paradiesischer Stille keine Spur! Sogar am Abend, als D. aus dem Philharmoniekonzert heimkehrte, war noch Leben auf dem Schneehügel, hörte er Lachen und Rufen. Jemand schien Saxophon zu spielen, und als D. oben beim Denkmal ankam, hatte sich eine Art Alpenverein dort versammelt, rodelte und trank Glühwein, während ein bärtiger Mann ins zwei Meter lange Alphorn blies. Merkwürdige Stadt, dachte Herr D. <br> |