Dez. 2003/Jan. 2004 - Ausgabe 53
Das Thema des Monats
Am Kottbusser Damm von Hans W. Korfmann Fotos: Michael Hughes |
»Also, so was gibt es bei uns aber nicht!«, beschwert sich ein Mann, der gerade von der Rolltreppe der U-Bahn steigt. »Hier kommt man ja überhaupt nicht mehr durch!«. Der Mann möchte, daß der Händler seinen Stand um einen Meter weiter nach rechts räumt, und droht mit der Polizei. Aber der Obstverkäufer grinst: »Ach, wissen Se, ick bin schon seit 30 Jahren hier in Kreuzberg, und wenn’s das bei Ihnen zuhaus nicht gibt, da kann ick doch nischt dafür!«. Der Fremde aus der U-Bahn ist an einen Deutschen geraten, und nach 30 Jahren auf dieser Straße gibt es nicht mehr viel, das ihn aus der Ruhe bringt. »Eigentlich schade, daß es das bei Ihnen nicht gibt!«, sagt er zum Fremden und sortiert weiter seine Bananen. Er ist der letzte deutsche Obstverkäufer am Kottbusser Damm. Ansonsten sind Frucht und Gemüse seit langem in türkischer Hand. Morgens um fünf oder um sechs kommen sie mit ihren Kleinsttransportern vom Fruchtmarkt in der Beusselstraße, häufen Berge gigantischer Kohlköpfe, Berge von Orangen auf ihre wackligen Stände, je höher, desto besser. Als sei es ein Volkssport und ein Vergnügen, dabei ist es Berechnung. Je höher die Fruchtberge, desto weiter sind sie sichtbar. Schließlich geht es am Kottbusser Damm nur ums Geld, ums Überleben. Hier gibt es keine gemütlichen Spaziergänger und Großstadtflaneure, keine netten Cafés zum Sitzen und Zuschauen. Foto: Michael Hughes
Vom Kopf bis zu den Füßen allerdings hüllen Brautkleider die seltsam blassen Schaufensterpuppen der türkischen Modegeschäfte ein, pompöse Kreationen, Wunder aus strahlend weißem Stoff, aufwendig bestickt mit Gold und winzigen Stoffrosen, für einen Preis von 500 Euro. Ergänzt wird die traumhafte Garderobe durch wallende Gewänder aus schimmernder Seide, dunkelrot, hellrosa oder azurblau, Abendkleider, die gar nicht passen zu dieser Straße mit den glotzenden Schafsköpfen in den Vitrinen der Metzger und dem ewigen Kohl der Gemüsehändler. So wenig wie die Auslagen der Juweliere, in denen alles Gold ist, was glänzt, und die neben dicken Siegelringen für den Herrn und Filigrankettchen für die Dame längst auch christliche Kreuze in ihrem Sortiment haben. Foto: Michael Hughes
Obwohl hier, wie die Leute vom »Kotti« nicht müde werden zu erzählen, die größte türkische Stadt auf dem europäischen Kontinent liegen soll – von jenem Teil Istanbuls, der diesseits des Bosporus liegt, einmal abgesehen. Und obwohl dieser nördlichste Zipfel Kreuzbergs mit seiner Hochbahnstation, den türkischen Banken, türkischen Ärzten und Anwaltspraxen, türkischen Reisebüros und Schulen, der Moschee mit den bunten Glasklinkern im Innern der gewaltigen Zementburg, die man nach dem Krieg am ehemaligen Stadttor in die Brache setzte, so viel Geschichte geschrieben, so viel zu erzählen hat. Selten ist Berlin der Türkei näher als hier. Wer abends in die Seitenstraßen schaut und die Männer in den Cafés an den Tischen sitzen sieht, im Licht der Neonlampen über ihren Kartenfächer gebeugt, umhüllt von den dichten Nebeln ihrer starken Orienttabake, das Glas Tee neben sich, der ahnt, daß es jetzt nur zwei Schritte sind in eine andere Welt. Doch der Kottbusser Damm taugt nicht als Touristenattraktion. Er riecht nach faulendem Gemüse und glühenden Auspuffen, nach Urin in den Ecken und schlechten Zigaretten. Nur der Markt am Ende der langen Gerade erfüllt die Erwartungen der Touristen, einst der »Türkenmarkt« schlechthin, einst der einzige. Heute gibt es viele Märkte, doch der am Maybachufer ist der bunteste und der lauteste, nirgendwo drängen sich so viele Menschen unter den Planen der Stände am Ufer des Kanals entlang. Hier findet der Mensch, was er zum Leben braucht, und was er nicht braucht. »Wieviel sind denn da drinne?«, fragt ein beleibter Deutscher den türkischen Verkäufer. »Zwölf Stück!« – »Und was kosten die?« – »Acht Euro«. Der Mann kratzt sich den Schädel, er macht den Eindruck, als löse er eine schwierige mathematische Aufgabe. Dann leuchten seine Augen auf: »Haben Sie noch eine Packung?« – »Nein, nur noch die eine!«, antwortet schnell der Verkäufer. Er ahnt, daß acht Euro für zwölf lange Baumwollunterhosen für einen Mann mit diesem Leibesumfang viel zu günstig sind, und wird am nächsten Tag den Preis erhöhen. Foto: Michael Hughes
Auch die Touristen, die sich auf den Markt verirren, haben manchmal diese glänzenden Augen. Sie wollten in die Hauptstadt, dachten an den Reichstag oder die Theater und Museen, und sind plötzlich in einem anderen Land. Sie verstehen nicht mehr alles, weil auf der Straße ein babylonisches Sprachengewirr herrscht. Sie spüren, daß sie nicht dazugehören, daß sie Fremde sind, nur zu Besuch in diesem Niemandsland zwischen Orient und Okzident, dieser kleinen Welt, die sich nicht recht entscheiden kann, ob sie diesseits oder jenseits des Bosporus liegt. <br> |