Dez. 2003/Jan. 2004 - Ausgabe 53
Kreuzberger
Hu Ping Chen, Weihnachtsmann »Als werfe man einen kleinen Stein ins Wasser, und der schlägt plötzlich gigantische Wellen!«
von Hans W. Korfmann
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Sein Vater stand im kalten Keller der Obentrautstraße, Sommer und Winter, und faltete Papierblumen für die chinesischen Jahrmarktshändler. Chen aber blieb ein lebensfrohes Kind. Mit seinem Freund, dem Franzosen, versammelte er eine bunte Clique um sich. Und als der Lehrer eines Tages einen Plattenspieler verloste, und jeder seinen Namen auf einen Zettel schreiben und in einen Karton stecken sollte, schrieben alle den Namen Chen’s darauf. Und wenn Chen das Geld für die Klassenreise nicht zusammenbrachte, dann sammelten sie für ihn. Alle mochten diesen witzigen Jungen. Das war auch an der HDK noch so, wo Chen »Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation« studierte. Und auch später noch, in seiner Firma, diesem Senkrechtstarter. Chen flog mit dem Hubschrauber auf die Party, die zwischen den Kulissen der »unendlichen Geschichte« in Babelsberg stattfand, saß an luxuriös gedeckten Tischen. Es sah aus, als wäre er auf der Sonnenseite angekommen. Bis die Firma in den Konkurs stürzte. Doch das Leben ging weiter. Chen hat immer irgendeine Idee. Er fängt immer wieder etwas Neues an. Er begann eine Ausbildung als Filmdramaturg, er fotografierte. Er arbeitete für die Berliner Abendschau als Kameramann. Er war Dozent und dann wieder Student. Chen ist kein romantischer, er ist ein moderner Mensch, flexibel. Ein Großstädter, ein Kosmopolit, und »ein echter Kreuzberger«. In der Obentrautstraße wuchs er auf, in der Dieffenbachstraße ging er zur Schule, im besetzten Tommy-Weißbecker-Haus wohnte er und war dabei, als eine Gruppe Langhaariger den Mehringhof kaufte. Auf dem Kopfsteinpflaster des Chamissokiezes steht noch heute der rote, rostige VW-Bus, der einfach nicht aufgeben will. Ebensowenig wie Chen. Chen ist Optimist. Sogar bei Mercedes glaubt man an ihn. Wenn er kommt und dort zwischen den glänzenden Karossen seine glänzenden Goldtaler verteilt, die er säckeweise bei Aldi erstanden hat, das Tütchen für 99 Cent aus der eigenen Tasche – »früher kosteten die 99 Pfennig!« – dann lächelt auch Mercedes. Denn man hat bemerkt, daß seine Gegenwart die Umsatzzahlen in die Höhe schnellen läßt. Der Weihnachtsmann hat eine stimulierende Wirkung auf das so vorsichtige Kaufverhalten der Deutschen. Und nirgendwo fällt das Trinkgeld so hoch aus wie beim Autohändler. Auch andere Firmen schätzen die weihnachtliche Erscheinung. Sie engagieren den Weihnachtsmann für ihre betrieblichen Weihnachtsfeiern, amüsieren sich hinter Vorhängen über die stotternden Kollegen beim Gedichtaufsagen, oder grinsen hinter halb geöffneten Türen über die verdutzten Gesichter ihrer Angestellten, wenn der Mann mit dem dicken Buch und der Zipfelmütze etwa zu Frau Berthold, die seit dreißig Jahren im Vorzimmer des Chefs sitzt, sagt: »Wie ich gehört habe, leben Sie in einer Art wilder Wohngemeinschaft …«. Erst, wenn er dann die Hundekuchen für Mitbewohner Waldi oder Hasso aus dem Sack holt, kommt der Seufzer der Erleichterung. Auch in die Obentrautstraße kam der Weihnachtsmann. Ein einziges Mal. »Das müssen sich meine Eltern vom Mund abgespart haben!«, sagt Chen. Und dann stand da so ein kleines Männchen, ein verkleideter Student! So richtig gefunkt hat es damals nicht zwischen Chen und dem Weihnachtsmann. Erst später, viel später, als es die erfolgreiche Chen Marketing GmbH mit ihren Graphikern, Textern und Gestaltern längst schon nicht mehr gab. Und als Chen allmählich klar wurde, daß er »finanziell nie wieder auf die Beine« kommen würde. Da trat der Weihnachtsmann in Chens Leben. Es war eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die Freundin erklärte dem resignierten Chen, daß sie im Kinderladen dringend einen Weihnachtsmann bräuchten. Zuerst war ihm nicht ganz wohl bei der Vorstellung, denn Chen hatte schon immer Prüfungsängste. Aber dann kaufte er kleine Geschenke, auch für die Pädagogen, die nicht damit rechneten, und verteilte lächelnd Schokolade. Jetzt geht er wieder selbst als Weihnachtsmann los. Steigt mit der Zipfelmütze in seinen VW-Bus, der so aussieht, als wäre er in Goa oder Marrakesch angemeldet, lächelt an den Ampeln verwunderten Autofahrerinnen zu, taucht unangemeldet und unentgeltlich auf Weihnachtsmärkten oder Bahnhöfen auf – Chen, der Weihnachtsmann aus Leidenschaft. Der Weihnachtsmann aus Überzeugung. »Manchmal komme ich in Wohnungen, die sind voller Geschenke. Manchmal liegen aber nur zwei kleine Pakete unter dem Baum. Da bin ich am liebsten!« Und da bleibt er auch mal einen halben Abend lang sitzen. Ein echter Weihnachtsmann hat schließlich keine Eile. Die meisten seiner 400 Berliner Kollegen sind eifriger. Einige besuchen am Heiligen Abend gleich zehn Familien hintereinander. Chen begnügt sich mit zweien. Er telefoniert, recherchiert, läßt sich Fotos schicken und bereitet sich auf den Abend vor, als ginge es ums Staatsexamen. Chen hatte schon immer Prüfungsängste. Und außerdem: Wenn Chen etwas macht, dann aus Überzeugung. Dann richtig. Auch, wenn es am Ende schief läuft. Chens langer Bart ist echt, schon im Sommer läßt er ihn wachsen. Damit er am 24. Dezember auch die richtige Länge hat. Wenn Chen kein Weihnachtsmann ist, dann verbringt er seine Tage in der psychiatrischen Abteilung des Benjamin-Franklin-Klinikums. Als Psychologiestudent und als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Hu Ping Chen stellt die Lehrpläne zusammen, arbeitet die Forschungsanträge aus, hält Vorträge, fährt zu Konferenzen, stellt sich zwei Tage als Versuchskaninchen im Schlaflabor zur Verfügung oder kommt auf die Idee, die handschriftlichen Protokolle der Lehrveranstaltungen abzufotografieren und auf CD zu brennen. Ein Service, auf den inzwischen auch Studenten aus ganz anderen Fachbereichen zurückgreifen. »Es ist, als werfe man einen kleinen Stein ins Wasser, und der schlägt plötzlich gigantische Wellen!« Vielleicht mögen sie ihn deshalb so. Nur in China ist er nie gewesen. Aber da möchte er noch einmal hin. Denn immer wieder entdecken Freunde in ihm das Andere, das Fremde. Dabei weiß Chen nichts von seiner Heimat und nichts über seine Herkunft. Er weiß nur, daß sein Vater ein Chinese war, daß über seinem Schreibtisch in der Wohnung ein Bild von Tschiang Kai-Tschek hing, und daß die Mutter aus einer Familie stammt, die schon vor zwei oder drei Generationen nach Deutschland einwanderte. Und daß die Mutter, wenn er nach früher fragt, immer die gleiche Antwort gibt, bis heute: »Laß doch die alten Geschichten!« Und daß die Mutter dieses freundliche, im rauhen Berliner Klima etwas exotisch wirkende Lächeln ihres Sohnes schon lange nicht mehr hat. Chen wird weiterlächeln. Er ist eben so. Er kann nicht anders. Deshalb fühlt er sich auch so wohl im Kostüm des Weihnachtsmannes. Da fällt diese Freundlichkeit nicht so auf. Die alten Kreuzberger, die ihn noch von früher kennen, als den erst glücklichen und dann so unglücklichen Chef der Werbeagentur, die würden sich vielleicht wundern, wenn er ihnen in der Weihnachtsnacht plötzlich mit seinem alten Lächeln erschiene. Dieser Chen, der damals plötzlich nichts mehr hatte, und dem sie heimlich Briefe mit Geld in den Briefkasten warfen – »vielleicht, weil ich ihnen auch irgendwann einmal geholfen habe«. Die Freunde verloren ihn aus den Augen. Chen zog sich zurück, ging auf keine Parties mehr. Damals war ihm tatsächlich das Lächeln vergangen! Aber jetzt ist er der Weihnachtsmann. Und strahlt, wenn ihn diese großen Kinderaugen anschauen. Er ist »eine Autorität«, vor der sogar die Kreuzberger Türkenkids ihr Sprüchlein aufsagen. Den Weihnachtsmann mögen eben alle. Die kleinsten Kinder und die ältesten Alten. Sogar diejenigen, die ihre eigenen Kinder nicht mehr erkennen und vielleicht das letzte mal Weihnachten feiern im Altersheim. Selbst die haben plötzlich Tränen in den Augen, wenn sie den Mann in Rot sehen, und murmeln ganz erstaunt: »Der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann ist da!« Deshalb wird er weitermachen, als Weihnachtsmann, »egal, was kommt!« |