Dez. 2003/Jan. 2004 - Ausgabe 53
Die Geschäfte
Exklusives Weihnachtspapier von Michael Unfried |
99 steht in plakativen, blauen Lettern auf der Eingangstür. So, wie in weniger luxuriösen Straßen die 50 an den Scheiben der Auslagen klebt, in der Billigartikel aus aller Welt für 50 Cent das Stück die Auslage kaum dekorieren. Doch in der Bergmannstraße 99 gibt es nur selten etwas, das weniger als einen Euro kostet – obwohl vor allem Papierenes verkauft wird: Kalender, Schreibblöcke, Notizbücher, Bewerbungsmappen, Fotoalben, Bilder, Fotografien, Kartons, Pappkästchen, Pappschächtelchen, und vor allem Postkarten. Der Laden ist kein geeignetes Revier für Schnäppchenjäger, sondern eher ein exklusives Lastminute-Angebot für jene, die auf dem Weg zur Geburtstagsparty noch immer kein Geschenk in der Tasche haben. Das Ararat an der Ecke zur Nostitzstraße ist eine Art mutierter Schreibwarenladen, vollgestopft mit Geschenkartikeln aus Papier zu luxuriösen Preisen. Vor allem der umfangreichen Postkartensammlung wegen kam man einst aus ganz Berlin in die Bergmannstraße gereist. Wenn irgendwo in der Stadt der Kult der frechen Karten einen Geburtsort hat, dann ist es dieser Laden in der Bergmannstraße. Ararat ist Kult. Besonders zur Weihnachtszeit. Menschentrauben wanderten und wandern noch immer die Kartenständer entlang und betrachten die Schwarzweiß-Aufnahmen mit den Sprechblasen, die knalligen Fotomontagen, die erotischen Geburtstagsgrüße und die Zeichnungen, wie sonst nur in Galerien und Museen. Manche der Passanten scheinen auch hier nur zum Ansehen vorbeizukommen, ganz wie im Museum. Dort kauft man ja auch nicht gleich jedes Bild, das einem gefällt. Manche aber kaufen auch. Und weil eine nette Postkarte mit treffendem Sprüchlein allein noch kein Geschenk ausmacht, und weil nicht jeder ein passionierter Fotograf ist, der ein exklusives Fotoalbum benötigt, ein Dichter, der eine samtige Arbeitsmappe oder einen außergewöhnlichen Aktenordner braucht, oder ein Vielbeschäftigter, der ohne den hübschen Taschenkalender für 12 Euro im Chaos versinken würde, hat Ararat inzwischen auch Unpapierenes im Sortiment. Im Schaufenster standen vor einiger Zeit drei silbern gefärbte Gartenzwerge, das Stück zu 57 Euro. Nebenan hing ein Duschvorhang aus bunt bedruckter Plaste für immerhin 42,50. Für die glücklich Verliebten hatte Ararat ein rosafarbenes Schaufenster eingerichtet, mit einer rosafarbenen Spardose in Form einer Torte für 25 Euro oder einer rosafarbenen Wärmflasche in Herzform. Daneben lag ein durchsichtiger, leicht rosa getönter Klodeckel, also eine rosa Brille, mit purpurfarbenen Herzen darauf, für 79 Euro. Da merkt man eben doch, daß Ararat am Kreuzberg liegt und nicht am Ku’damm. Seit kurzem aber weihnachtet es auch im Schaufenster bei Ararat: Jetzt gibt es Duschvorhänge mit Goldfischen, weiße Osterhasen und eine buntgescheckte Modellkuhherde, sowie Aktenordner mit Kuhfell-Imitation, und viele bunte Weihnachtssterne aus Papier für 17,50 Euro – ohne Kabel und Fassung. Und Kalender: Adventskalender, Autorenkalender, Fußballkalender, Cartoonkalender, Bad-Woman-Kalender … Und natürlich viele, viele Postkarten mit Engeln, Weihnachtsmännern, Christbäumen … Foto: Michael Hughes
»Fünfzehn Euro für zwei Pappendeckel und vier Schrauben, ist das nicht ein bißchen viel?«, fragt ein Kunde. Die Verkäuferin sieht ihn etwas verdutzt an. Man ahnt, daß sie diesen Satz auf der Zunge hat, den die Berliner Verkäuferinnen in diesen Momenten gerne zitieren: Sie brauchen das ja nicht zu kaufen, junger Mann. Aber sie sagt nichts. Sie begnügt sich mit einem Blick. »Zwei Stück Pappe und vier Schrauben für 34 Mark. Das muß man sich schon einmal vor Augen halten!«, sagt der Kunde und behauptet, die zwei gleichen Deckel vor einem Jahr noch für vier oder fünf Mark erstanden zu haben, gute, alte Mark. Die Verkäuferin setzt jetzt aber doch ein ungläubiges Gesicht auf und sagt: »Allein schon dieser Karton, sehen Sie mal, wie schwer der ist!« – Aber ein Karton ist eben ein Karton und keine Edelmetallplatte, er ist nichts anderes als gepreßtes Papier. Der Kunde stellt die Deckel kopfschüttelnd wieder ins Regal zurück. Eine Stunde später aber ist er wieder da und geht auf die Verkäuferin zu. Es ist fünf vor sieben, die Geschäfte schließen gleich. Die Verkäuferin lächelt ihn an, während sie den Preis in die Kasse tippt. »Ich brauch es eben dringend!«, sagt knurrend der Kunde. »Ich weiß!«, zwitschert die Verkäuferin. So geht es vielen im Ararat. Und je näher Weihnachten rückt, um so öfter. Sie zögern – und kaufen am Ende doch. So macht man bei Ararat sein Geschäft mit der Zeit und der im Zeitalter der Computer verlorenen Bastellust. Denn früher, da setzte man sich abends gemütlich an den Tisch, ausgerüstet mit Schere und Klebstoff und einer Tasse Kaffee, und leimte sich die Kollagen selbst zusammen. Da entwarf man die Postkarten noch selbst, hatte eine Idee und ein Stück Karton genommen und ein wirklich persönliches Geschenk kreiert. Heute sind alle froh, daß es dieses Geschäft mit diesem großen Sortiment an kleinen Aufmerksamkeiten in der Bergmannstraße gibt. Und sollte jemand hier einmal tatsächlich nicht das Richtige finden für die Liebste oder den Liebsten, den alten Klassenkameraden oder den Urgroßvater, der braucht nur die Straßenseite zu wechseln, wo Ararat eine zweite Filiale betreibt. Dort hat man sich auf Bilderrahmen spezialisiert, Bilderrahmen aller Art und aller Größen, und, wenn es sein muß, auch gleich mit passendem Bild dazu. Einst war es der Werkzeugladen der Schlumms gleich nebenan, der den Künstlern und Hobbykünstlern des Kiezes für ein paar Mark – oder auch gegen ein kleines Original – die Rahmen zimmerte. Einfach und schmucklos, funktional, wie es sich für einen ordentlichen Handwerker und einen ordentlichen, armen Künstler gehört. Drüben, bei Ararat, sind die Rahmen manchmal großartig und schwer – nur Künstler gibt es dort kaum welche mehr. <br> |