Dez. 2003/Jan. 2004 - Ausgabe 53
Essen, Trinken, Rauchen
Mama Su ist schon lange tot von Hans W. Korfmann |
Andererseits ist sie unsterblich. Denn sie war, so die Legende, eine der letzten großen Abenteurerinnen. Mama Su nämlich trieb die Reiselust durchs Leben, und da sie kein Geld zum Reisen hatte, arbeitete sie als Schiffsköchin. Jahrelang durchkreuzte sie den Indischen Ozean, sah ganz Asien. Doch anders als Sindbad sammelte sie nicht nur Geschichten, sondern sie brachte aus jedem Hafen, jeder Region, ein paar Rezepte mit. Als sie des Reisens überdrüssig wurde, ging sie in Tsing-Tao, ihrer Heimatstadt, vor Anker, und eröffnete ein kleines Hafenrestaurant. Das war der Beginn der Legende von Mama Su. Denn bald war das Lokal mit der experimentierfreudigen, erfahrenen Köchin weit über das Hafenbecken hinaus bekannt, das Publikum bald so international wie ihre Küche. Als im Sommer des Jahres 1900 der Boxeraufstand ausbrach und es in Tsing-Tao allmählich ungemütlich wurde, überredeten einige deutsche Händler die Mutter aller Köchinnen, mit ihnen nach Deutschland zu kommen. Schließlich gab es auch in Hamburg einen vielbefahrenen Hafen. So kam Mama Su nach Europa, und ihr chinesisches Restaurant in der Hansestadt wurde zur Institution. So zumindest steht es auf der Speisekarte, die bei Mama Su in der Oranienstraße ausliegt. Denn Mama Su ist zum Synonym für die innovative asiatische Küche geworden und längst bis Berlin vorgedrungen. Verstaubte Holzvertäfelungen, Räucherstäbchenatmosphäre und meditative Klänge sind einem modernen und schnörkellosen Inventar gewichen, hell leuchten die Scheinwerfer, nicht eine Spur mehr von Hafenspelunke im fernen, tiefen Osten. Aus den Lautsprecherboxen dringt eine Mischung aus Funk, Techno und Hiphop, die Frau am Tresen hat einen gepiercten Nabel und trägt keine spitzen Pantöffelchen, sondern Turnschuhe. Mama Su’s Erben konnten das riskieren: Die stadtläufige Presse überhäufte das Lokal am Heinrichplatz geradezu mit Lob. Und jeder, der kam, um dem leichtsinnigen Geschwätz der Gastrokritiker von »prickelnder Exotik« und »Angewandter Wok-Kultur« endlich einmal einen bissigen Artikel entgegenzusetzen, wurde enttäuscht. Angestachelt von der BVG-Ästhetik der Plastikbezüge auf den Bänken und ermutigt durch die bahnhofshallenstarken Lautsprecheransagen in der Bahnhofshalle mit ihren Hinweisen auf die abholbereite Nr. 43 (Pad Chai Pang) oder Nr. 44 (Tao Hu) betrat auch Michael Unfried das Lokal mit bösartigen Absichten. Er verließ es gesenkten Hauptes. Obwohl Herr Unfried ein hartnäckiger Kritiker war. Man sah ihn drei Stunden lang über diverseste Gerichte gebeugt, beginnend mit Mama Su’s Soya Sticks und Mama Su’s Springrolls. Dummerweise hatte er noch nie solche Frühlingsrollen gegessen, und Unfried war ein Spezialist in Sachen Frühlingsrollen. Als nächstes wollte er sich über ein banales Nasi Goreng hermachen, aber Mama Su hatte kein Nasi, sondern nur ein Bami. Also entschied er sich für Wan Tan, die kannte er auch ganz gut. Angesichts des großen grünen Blattes in der klaren Wasserlache runzelte Unfried die Stirn – die Brühe sah aus, als schmecke sie nach nichts. Aber sie schmeckte nach allem nur denkbaren. Verärgert stach er in eine der vier Teigtaschen, doch sie hielt der Gabel stand, obwohl sie innen flaumig weich war und wundervoll nach Shrimps und Huhn schmeckte. Hoffnungsvoll testete er nach drei Stunden sogar einen Kim Chi, einen koreanischen Kohl. Unfried haßt Kohl. Doch er ließ kein Blatt im Tellerchen. Vollkommen niedergeschlagen ging er zu der Frau mit dem Glitzerkügelchen im Bauchnabel und sagte: »Ich weiß gar nicht, wie ich das formulieren soll. Ich habe nämlich keine Übung im Loben. Aber es war wirklich sehr gut«. P.S.: Auf Anraten einiger Leser, die sich beschwerten, daß unsere sogenannte Gastrokritik selten über das Essen und meist über die Gäste der Kreuzberger Lokale berichte, bewerten wir ab sofort sämtliche Lokale mit 1-3 Sternchen. <br> |