April 2003 - Ausgabe 46
Strassen, Häuser, Höfe
Carl-Herz-Ufer von Werner von Westhafen |
»Man kann der jüdischen Sache keinen größeren Schaden zufügen, als das deutsche Volk als Ganzes in den Anklagestand zu versetzen«, schrieb der Jurist Carl Herz fünf Jahre nach dem Ende des Krieges und des Holocaust und fügte hinzu, daß die deutschen Juden »eine Mitschuld nicht in Abrede stellen können. Der deutsche Jude zeigte in der Novemberrevolution von 1918 und schon vorher im Weltkrieg dieselbe geschichtsunkundige Naivität, die das umgebende Bürgertum gezeigt hat. (…) Im November 1918 standen die Mehrzahl der deutschen Juden solchen gemäßigten Politikern wie Hugo Haase, Oskar Cohn und Rosa Luxemburg ablehnend und mit demselben Schauder gegenüber wie die christlichen Glaubensgenossen. Ich betone dabei ausdrücklich, daß ich in Rosa Luxemburg eine Politikerin mit gemäßigten Anschauungen erblicke«. Dr. Herz war ein gelernter Jurist, erprobt im objektiven Abwägen von Schuld und Unschuld. Doch mit derlei kritischen Äußerungen zur Geschichte der Juden in Deutschland könnte sich Carl Herz heute wohl kaum in die Öffentlichkeit wagen, TV-Unterhalter Friedmann würde ihn in Stücke reißen. Die Zuweisung einer Teilschuld der Juden an ihrem Schicksal würden seine schmalzigen Haare zu Berge stehen lassen. Es seien, schreibt Herz an anderer Stelle desselben Aufsatzes, »die Lichtpunkte im Aufstieg des deutschen Judentums im Deutschland des 19. Jahrhunderts gewiß glänzend« gewesen. »Aber es dürfen die dunklen Punkte namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet nicht übersehen werden«. Herz kritisiert den Wucher jüdischer Geschäftsleute, beschreibt die jüdischen Viehhändler, deren Geschäftsgebaren die hessischen Bauern an den Rand des Ruins trieben. Der überzeugte Sozialist Herz klagt sie der Ausbeutung an, und auch den Status eines Volkes möchte er den ewig Heimatlosen nicht zugestehen, denn ein Volk definiere sich durch eine gemeinsame Kultur und Sprache. Aber »die deutschen Juden waren bis 1933 Deutsche. (…) Die marokkanischen Juden waren Araber. Zwischen den deutschen Juden und den marokkanischen Juden kann man keine Ähnlichkeit, weder auf physischem Gebiet noch in kultureller Beziehung, feststellen«. Aussagen, die man heute als antisemitisch verurteilen würde. Auch wenn sie von einem Mann stammen, der selbst Jude war. Auch wenn sie von einem Mann stammen, den die Nationalsozialisten am 10. März 1933 gewaltsam aus seinem Amtszimmer entführten und durch die Straßen von Kreuzberg trieben, um ihn im berüchtigten Gutschowkeller in der Friedrichstraße den Folterknechten der SA auszuliefern. Am Straßenrand stand das aufgehetzte Volk Spalier und forderte die Einlieferung ins Arbeitslager oder sofortiges Erschießen. »Der Marsch ging zunächst über die Yorckstraße in der Richtung Großbeerenstraße, dann auf der anderen Straßenseite in der entgegengesetzten Richtung nach der Gneisenaustraße zu. (…) Während des Transportes wurde mir von hinten auf den Überzieher mit einer Stecknadel ein Blatt angeheftet, auf dem mit rotem Farbstift geschrieben stand: Bürgermeister Dr. Herz«. Carl Herz, SPD-Mitglied und von 1926 bis 1933 Bürgermeister von Kreuzberg, gewählt nicht nur mit den Stimmen seiner Partei, sondern auch denen der KPD, war angetreten, um »vor allem in der sozialen Fürsorge, Jugendfürsorge, Erwerbslosenfürsorge usw. die wahren Interessen der Arbeiter zu vertreten«. Keine leichte Aufgabe in Zeiten, in denen sich Geldscheine in wertloses Papier verwandelten und die Kassen leer waren. Dennoch schuf er 105 sogenannte Wohlfahrtsbezirke, in denen jeweils 20 Angestellte, die meisten aus der Arbeiterschaft, »bürgernah« tätig waren. Doch die allgemeine Not wuchs, und der Zorn der Bevölkerung, angestachelt von den NSDAP-nahen Medien, richtete sich schon bald gegen den Bürgermeister im Kreuzberger Rathaus. Carl Herz war nicht zum ersten Mal in die Schlagzeilen der Berliner Zeitungen geraten. Schon als er das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters und Wohlfahrtsdezernenten im Bezirk Spandau bekleidete, versuchte man den engagierten Sozialisten aus dem Amt zu drängen. »Am wenigsten erfreulich ist das Verbleiben des seinerzeit auf 12 Jahre gewählten Stadtrates Dr. Herz, der als Jude, besonders für unsere Stadt, wohl kaum der richtige Mann ist«, schrieb das Spandauer Volksblatt im Februar 1922. Tatsächlich beschloß die Bezirksverordnetenversammlung 1924 einen Personalabbau und enthob Herz seines Amtes, denn »die Juden haben Christus gekreuzigt, also können die Juden keine Beamte sein«. Doch Carl Herz war nicht Jurist geworden, um angesichts geschehender Ungerechtigkeiten zu schweigen. Er begann seinen Einspruch gegen die Amtsenthebung mit den Worten: »Daß ein Jude – und obendrein ein sozialdemokratischer Jude – eine leitende kommunale Verwaltungsstelle bekleidet, verstößt in solchem Maße gegen die in jahrhundertelanger Tradition zum festen Dogma gewordene Anschauung weiter Kreise, daß die Triebkraft der dadurch ausgelösten Empfindungen alle rechtlichen Bindungen wie Zwirnsfäden zerreißt.« Wenige Monate später war Herz wieder im Amt. Im März 1933 aber konnten die Nationalsozialisten den Kreuzberger Bürgermeister endgültig aus dem Amt entfernen. Herz wurde unbequem. Er hatte sich geweigert, den Namen eines Mannes preiszugeben, den die NSDAP einer militanten Widerstandsgruppe zurechnete. Und auch, als die Männer der SA in der Nacht des 8. März im Urbankrankenhaus auftauchten und 50 Betten für die »Hilfspolizei« forderten, intervenierte der Bürgermeister und versuchte, gegenüber dem Sturmbannführer das »städtische Eigentum« zu verteidigen. Damit aber hatte Herz die Grenzen des nationalsozialistischen Anstands überschritten. Zwei Tage später trieben sie den Bürgermeister durch die Straßen von Kreuzberg, zwangen ihn mit Tritten zum Hitlergruß und ließen ihn durch die Markthalle marschieren, »erst durch einen Seiteneingang, dann durch den in der Mitte gelegenen Hauptgang«, und riefen den Standinhabern zu: »Hier ist der Bürgermeister Herz, der Euch die Standmieten erhöht hat«. Herz entkam dem Folterkeller, da die Polizei den Bürgermeister in Schutzhaft nahm. Doch von seinem Amt mußte er zurücktreten. Seinen Einspruch lehnte der Oberbürgermeister mit den Worten ab: »Voraussetzung für Ihre zwangsweise Beurlaubung war Ihre nicht arische Abstammung (…)«. Also arbeitete Carl Herz wieder in seinem Beruf als Jurist. Er beriet jüdische Beamte in Rechts- und Unrechtsfragen. Auf das Drängen seiner Frau flüchteten sie schließlich 1939 nach England, wo Herz im Widerstand arbeitete. 1951 starb er in Haifa, Israel. Einem Land, in dem er nicht ganz glücklich gewesen sein wird, denn er schrieb: »Ob sich der jüdische Staat gegenüber den ihn umgebenden Arabermächten halten wird, ist eine Frage, die sich (…) nicht beantworten läßt. Solange in diesen Staaten der Feudalismus herrscht, ist ein wirklicher Frieden zwischen Israel und den arabischen Staaten nicht zu erhoffen.« Bis heute gibt es diesen Frieden nicht. <br> |