Kreuzberger Chronik
April 2003 - Ausgabe 46

Herr D.

Herr D. lernt nicht aus


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. fuhr zur Buchmesse. Obwohl seine Lektüre vorwiegend aus Aktenordnern bestand. Bücher las er nur im Urlaub, und die fand er in dem kleinen Buchladen am Marheineke-Platz, bei Hammett. Denn Herr D. las am liebsten Krimis. Die Belletristik war ihm zu dicht mit guten Menschen bevölkert. Im Krimi aber fand er etwas von jener Schlechtigkeit und Hinterhältigkeit wieder, stieß er auf ebensolche, in vielen einsamen Stunden ausgetüftelte Pläne wie unter seinen Kollegen. Das machte die Krimis zu einer spannenden Lektüre.

Auch, wenn Hammett eine für Herrn D. befriedigende Auswahl an Lektüre bot: Einmal wenigstens wollte er diese pfeiferauchenden Kommissare leibhaftig sehen, und die Chance, daß Donna Leon, Henning Mankell oder Petros Markaris sich in der Buchhandlung am Marheinekeplatz einfanden, war sehr gering. Doch Herr D. war am Ende enttäuscht. Es bestand kein Unterschied mehr zwischen den verschiedenfarbigen Toilettendeckeln einer Sanitärausstellung und den Buchdeckeln auf der Buchmesse, und von den pfeiferauchenden Helden der Kriminalliteratur keine Spur.

Deshalb saß er ein wenig enttäuscht mit seinen Prospekten und Leseproben auf seinem reservierten Platz im Zug, zusammen mit zwei wenig bis gar nichts sagenden Herren seines Alters und zwei vielsagenden jungen Damen, von denen die rechte, der Menge des Papiers nach zu schließen, die sie transportierte, auch von der Buchstabenmesse kam.

»Ich lese am liebsten Krimis!«, wagte Herr D. einen Anfang. »Aber Krimis sind ja keine Literatur. Die sind ja trivial! Als ob so ein gut geschriebener Krimi nicht mehr Architektur und mehr Recherche verlangt als so ein blöder Befindlichkeitsroman!«

D. fühlte sich nicht besonders wohl in dem engen Zugabteil. Außerdem hatte er das Gefühl, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben. Doch die Frau mit dem vielen Papier in ihrer Tüte nickte ihm zu.

»Da haben Sie recht! Der klassische Spannungsbogen bei einem Kriminalroman ist identisch mit dem eines griechischen Dramas, und seinen Stoff besorgt sich der Kriminalbuchautor in den meisten Fällen aus authentischen Polizeiakten. Kriminalautoren recherchieren so gewissenhaft wie Historiker«. »Und keiner dankt es ihnen!«, sagte Herr D.
»Keiner, außer der enorm großen Leserschaft!«, sagte die Rechte. »Wissen Sie eigentlich, wie viel Kriminal …« D. sah, wie die Spezialistin für einen mindestens halbseitigen Monolog Luft inhalierte, während die Linke in einem Buch blätterte und tat, als höre sie nichts. Sie schien regelrecht taub zu sein. Nur ihr Handy zog sie aus der Tasche, noch bevor es klingelte. »Vibracall«, dachte Herr D.
»Die Zeit des abgewägten und genau formulierten Wortes ist vorüber! Heute schreibt man schnell …«, verfolgte die Rechte hartnäckig das Thema. Herr D. beobachtete, wie die Linke auf der winzigen Tastatur eine SMS eintippte – in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit und mit erstaunlicher Fingerfertigkeit. Diese jungen Leute und ihre Handys! Herr D. verzog den Mund, die Rechte zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Innerhalb weniger Minuten empfing und schrieb die Linke nun sieben oder acht SMS. »Mit diesen flinken Fingern könnte sie jede Woche einen Bestseller schreiben!«, meinte die Rechte. Herr D. wurde rot. Aber die Linke hörte nichts mehr. Sie war ganz und gar auf ihre winzige Tastatur konzentriert.

Sie sah auch dann nicht von ihrem Display auf, als der Schaffner die Tür aufschob und sein berühmtes: »Die Fahrkarten bitte!« ins Abteil brummte. Sie tippte stakkatoartig Buchstaben in ihr Telefon. Die Rechte schüttelte den Kopf, auch der Schaffner ließ die Mundwinkel hängen und berührte den tauben Fahrgast an der Schulter. Da sah sie plötzlich hoch, deutete auf ihr Ohr, hob die Schultern und schüttelte lächelnd den Kopf. Den Rest der Fahrt saß Herr D. still in seinem reservierten Sessel, dachte über seine Neigung zu Vorurteilen, den eigentlichen Sinn der Buchstaben und den Segen der Erfindung des Handys für Taubstumme nach. <br>

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